Darf man den Verkehr blockieren, um gegen die Erderhitzung zu demonstrieren? "Nein", sagt das Gesetz: "Ja", sagen Aktivisten einer noch jungen Bewegung namens "Extinction Rebellion", kurz: "XR". Im April blockierten sie den Berufsverkehr auf der Oberbaumbrücke in Berlin-Kreuzberg, im Mai die Theodor-Heuss-Brücke in Heidelberg oder im Juni das Bundeshaus in Bern.
Eine Straßenblockade "ist ein Eingriff in den fließenden Verkehr und stellt in der Regel eine Nötigung dar", erklärt Uwe Schrötel, Leiter des Polizeireviers Heidelberg-Mitte. Die Polizei habe die Pflicht einzuschreiten und Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Straftat der Staatsanwaltschaft zur Entscheidung vorzulegen. "Wir müssen darauf aufmerksam machen, dass die Klima-Krise eine reale ist", erklärt hingegen Leonie Faschian, XR-Aktivistin aus Heidelberg, die an der Brückenblockade beteiligt war. Eine solche Aktion helfe, die "Massage" der Bedrohung zu vermitteln.
Im April 2019 blockierten Aktivisten der Bewegung "Extinction Rebellion" mitten im nachmittäglichen Berufsverkehr die Oberbaumbrücke im Berliner Bezirk Kreuzberg/Friedrichshain; Foto: B. Sauer-Diete/bsdphoto
"Extinction Rebellion" ist eine relativ junge Protestform, die bewusst Mittel des Zivilen Ungehorsams einsetzt, um gegen die Klimakrise und das Massenaussterben von Tieren und Pflanzen zu protestieren. Der englische Name ist für Nicht-Muttersprachler etwas schwierig auszusprechen, er bedeutet sinngemäß: "Rebellion gegen das Aussterben". Damit ist, wie erwähnt, das drohende Massen-Aussterben von Tieren und Pflanzen infolge der Erderhitzung und des Verlusts von Lebensräumen gemeint - aber auch das mögliche Aussterben der Menschheit.
"Wir wollen das Alltagsleben stören und die Aufmerksamkeit auf ein Problem lenken, das sonst sehr leicht ignoriert wird", sagt die Berliner XR-Aktivistin Hannah Elshorst. Die XR-Idee stammt ursprünglich aus Großbritannien, wo im vergangenen Jahr Vertreter aus Wissenschaft und Bürgerrechtsbewegung erfolgreiche Protestformen der Vergangenheit analysierten - von Mahatma Gandhi über Martin Luther King bis hin zur Anti-Atombewegung in Deutschland. Die erfolgreichste Methode, Veränderungen herbei zu führen, so die Analyse, sei Ziviler Ungehorsam.
Begrenzte Regelverstöße sollen Aufmerksamkeit und Sympathie erregen
Bei dieser Protestform wird öffentlich (und oft im Voraus angekündigt), bewusst und kalkuliert und unter Berufung auf das eigene Gewissen in begrenztem Umfang gegen Rechtsnormen verstoßen. Ziel ist es dabei meist, allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen und den Staat zu einer Sanktionierung zu zwingen - die dann von der Öffentlichkeit wegen des moralisch hohen Zieles des Protest als ungerecht empfunden werden soll.
"Die Briten haben eine große Tradition in der Kultur des zivilen Ungehorsams“, sagt der Soziologe und Protestforscher Dieter Rucht. Er erinnert an die Suffragetten-Bewegung, mit der Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts etwa durch die Störung offizieller Veranstaltungen oder Hungerstreiks für Gleichberechtigung eintraten. Oder an die Reclaim-the-Streets-Bewegung: "In den 1990er Jahren schmiedeten Hausbesetzer, Punks, ökologisch orientierte Initiativen und andere engagierte Bürger in britischen Städten ein Bündnis, um die Straßen als Lebensraum zurückzuerobern." Auf Straßen wurden Blumen gepflanzt, in Parks Tomaten angebaut, die Straße als Konzertbühne genutzt - natürlich alles, ohne zuvor offizielle Genehmigungen einzuholen. Ein anderes Beispiel: Um Straßenbau-Projekte zu verhindern, gruben britische Aktivisten Tunnel unter den Baugrund. "Schwere Baufahrzeuge konnten dadurch nicht mehr fahren", erklärt Rucht.
Die Bewegung "Extinction Rebellion" startete Ende 2018 in Großbritannien
Auch in Deutschland gab es in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Aktionen Zivilen Ungehorsams: Wann immer sich zum Beispiel ein Zug mit Castor-Behältern voller Atommüll zum niedersächsische Gorleben aufmachte, war der Protest schon da. Immer und immer wieder ketteten sich Aktivisten zum Beispiel an die Gleise, seilten sich von Brücken ab oder setzten sich tausendfach auf die Schienen – um die Staatsmacht herauszufordern und eine gesellschaftliche Debatte über die Atomkraft zu erzwingen. An Straßenblockaden aus Protest gegen die Stationierung von nuklearbestückten Pershing-2-Raktenim baden-württembergischen Mutlangen beteiligten sich Anfang der 80er Jahre sogar Richter und Soldaten. Jüngstes Beispiel ist der Hambacher Forst, wo sich Aktivisten monatelang in Baumhäusern aufhielten, um die Rodung des Waldes für den Braunkohleabbau zu verhindern. In Österreich wehrten sich Umweltschützer 2017 mittels Baustellenbesetzung und Protestcamps gegen ein Wasserkraftwerk am Fluss Mur.
Zuletzt haben in Deutschland Aktivisten von "Ende Gelände" mit der Erstürmung von Braunkohle-Abraumbaggern für Schlagzeilen gesorgt. "Wichtig ist, den Regelbruch gut zu begründen", sagt Protestforscher Rucht. Denn nur dann könne die Gegenseite gezwungen werden, sich mit den Argumenten des Protestes auseinanderzusetzen. "Deshalb ist es auch zwingend, dass ziviler Ungehorsam gewaltfrei bleibt." Gewaltsamer Protest, so der Wissenschaftler, unterminiere in der Öffentlichkeit die Argumente der Protestierer.
"Wir wollen das Alltagsleben stören und die Aufmerksamkeit auf ein Problem lenken, das sonst sehr leicht ignoriert wird" - mit diesen Worten erklärte eine Aktivistin von "Extinction Rebellion", warum die Gruppe im April 2019 stundenlang den Verkehr auf der Oberbaumbrücke in Berlin blockierte; Foto: B. Sauer-Diete/bsdphoto
Und nun also die "Extinction Rebellion": Als erste Aktionen dieser Bewegung gelten Sitzstreiks und Brückenbesetzungen im Oktober 2018 in London. Inzwischen hat sie nach eigenen Angaben bereits Mitstreiterinnen und Mitstreiter in weltweit mehr als 30 Ländern. In Deutschland wurden durch XR-Aktivisten zum Beispiel die Zufahrt zum Flughafen Berlin-Tegel, die Innenstädte von Bremen und Leipzig oder die Ringstraße in Wien blockiert. "Unsere Regierung verharrt in empörender Untätigkeit und versagt in ihrer Aufgabe, uns vor der Klimakatastrophe zu schützen. Viele von uns sind deshalb bereit, persönliche Opfer zu bringen und Verhaftungen zu riskieren", hieß es in einem XR-Aufruf aus dem April. Der bewusste Regelverstoß sei "unsere letzte Möglichkeit, nicht länger ignoriert zu werden".
Dass das begrenzte Brechen von Vorschriften die Wahrnehmung von Klimaprotesten verstärkt, haben nicht zuletzt die Fridays-for-Future-Proteste bewiesen: Dass die Kinder und Jugendlichen die allgemeine Schulpflicht ignorieren und während der Unterrichtsszeit auf die Straße gehen, hat einen wesentlichen Teil der anfänglichen Politiker-Reaktionen und Medienberichte ausgemacht. Die Aktivisten von "Extinction Rebellion" gehen nun deutlich weiter, indem sie in das Alltagsleben von Durchschnittsbürgern eingreifen. Auch ihnen ist damit Aufmerksamkeit gewiss - allerdings könnten sie damit auch breitere Abwehrreaktionen hervorrufen oder Klimaschutz-Kritikern eine willkommene Bühne bieten, diese Protestform anzugreifen und damit das Klima als Radikalen-Thema zu verunglimpfen.
Wie radikal dürfen Proteste sein, um noch legitim zu wirken?
Deshalb ist es keine Detailfrage, wie weit die XR-Aktivisten bereit sind zu gehen. Anfang Juni wurden Pläne bekannt, den Betrieb des Flughafens London-Heathrow zu sabotieren. Mit mehr als 75 Millionen Passagieren jährlich ist er das wichtigste Luftdrehkreuz Europas und bereits heute Großbritanniens größte Einzelquelle von Treibhausgasen. Trotzdem soll Heathrow eine weitere Startbahn bekommen, die Kapazität des Aiports auf 130 Millionen Passagiere im Jahr ausgebaut werden. "Nicht mit uns", sagen die XR-Rebellen.
Im Dezember 2018 musste der zweitgrößte britische Flughafen Gatwick für anderthalb Tage geschlossen werden, weil eine Drohne im Luftraum kreiste und den sicheren Luftverkehr bedrohte; mehr als hunderttausend Passagiere waren betroffen. In Heathrow solche kleinen Flugobjekte aufsteigen zu lassen, hätte ungleich schwerere Folgen - würde man, wie ursprünglich angekündigt, an elf Tagen im Juni und Juli auf diese Weise protestieren, müssten knapp 2,5 Millionen Menschen mit einem Flugausfall rechnen. Zu Beginn der britischen Sommerferien wäre den Aktivisten Aufmerksamkeit sicher. Fliegen habe "völkermord-ähnliche Konsequenzen für künftige Generationen und die Umwelt", hieß es in einem XR-Aufruf - und deshalb sei die Aktion gerechtfertigt. Eine Heathrow-Blockade vereine drei Faktoren in optimaler Weise: "Maximale Störung und damit maximaler politischer Druck, ein relativ geringer Ressourceneinsatz und keine Gefahr, jemanden zu verletzen." Allerdings regte sich innerhalb der Bewegung schnell Widerstand, einige Aktivisten hielten das Störmanöver für zu "brutal". Jedenfalls wurde die Drohnenaktion erst einmal verschoben – auf den Herbst, wie die Aktivisten mitteilten.
"Ziviler Ungehorsam in diesem Ausmaß ist neu beim Klimathema"
Ob solch weitreichende Aktionen legitim sind, "kann nur jeder Einzelne mit seinem politischen Kopf beurteilen", kommentiert der Protestforscher Dieter Rucht. Insgesamt bescheinigt er "Extinction Rebellion", eine neue Form zu sein, das Klima auf die politische Agenda zu setzen. "Mit gewaltfreien Aktionen Veränderungen herbeiführen zu wollen, das hat es bei diesem Thema bislang in diesem Ausmaß noch nicht gegeben." Für einen Erfolg genüge es jedoch nicht, etwas als „Zivilen Ungehorsam“ zu bezeichnen. Notwendig sei, genügend Argumente und eine Begründung für die Aktion zu liefern, Gesicht zu zeigen - und für die (strafrechtlichen) Konsequenzen einzustehen.
In Heidelberg zum Beispiel ist das jetzt der Fall. Polizist Schrötel sagt: "Es wurden Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz und wegen Nötigung eingeleitet." Die Aktivisten bestätigen, dass erste Strafbefehle eingegangen sind. Und hoffen jetzt, dass genügend Spenden eingehen, um die Last auf Viele zu verteilen.
Nick Reimer