Nicht nur Kinder, auch Erwachsene lieben Geschichten. Wo immer Menschen zusammentreffen, erzählen sie sich welche. Seit einigen Jahren haben es deshalb PR, Unternehmenskommunikation und Marketing für sich entdeckt: das Storytelling. Ein Trend, nicht mehr länger nur Informationen vermitteln, sondern Geschichten erzählen zu wollen. Das Motto: Wer gute Geschichten erzählt, der bewegt die Menschen, der hinterlässt Eindruck und bleibt im Gedächtnis. Eine Sichtweise, die auch Hirnforscher teilen.  

Was in der Erwachsenenwelt gerade mega-hip ist, ist im Kinderzimmer ein alter Hut. Kinder lieben Geschichten, und schöne Kinderbücher gibt es wie Sand am Meer. Zwischen zwei Buchdeckeln greifen Kinderbuchautoren auch regelmäßig aktuelle Themen auf, zuletzt beispielsweise Flucht, Migration und Anderssein – und verarbeiten sie in künstlerisch-kreativen Erzählungen. "Diese Themen boomen gerade auf dem Kinderbuchmarkt", sagt Elisabeth Hollerweger, Literaturwissenschaftlerin an der Universität Bremen.

Auch für Kinderbücher scheint das Klima ein schwieriges Thema zu sein

Aber wie steht es um den Klimawandel? "Leider schlecht", meint die Expertin, "es gibt dazu kaum literarische Erzählungen für Kinder." Christine Kranz, Referentin für Leseförderung bei der Stiftung Lesen bestätigt diese Einschätzung: "Im Grundschulalter stehen eher Sachbücher, wie 'Memo Wissen' oder 'Was ist Was', im Vordergrund, die sich der Thematik explizit widmen. Für Kinder im Kindergartenalter gibt es nur eine Handvoll Bilderbücher, die sich mit vom Klimawandel bedrohten Tieren beschäftigen."

Literaturwissenschaftlerin Hollerweger hat noch eine andere Beobachtung zum Themenfeld gemacht: "Die wenigen Erzählungen für Kinder im Alter zwischen sieben bis zwölf Jahren, die es überhaupt gibt, handeln weitestgehend im lokalen Raum." So gehe es in den Umweltkrimis und -reihen (zum Beispiel Die grünen Piraten, Die Alster-Detektive) eher um Tierschutz oder Umweltverschmutzung. An ein globales Thema wie den Klimawandel wage sich kaum einer heran.

Bei Büchern für Ältere hingegen sieht es anders aus. Jugendbuchautoren greifen häufiger das Thema Klimawandel auf oder rücken es gar in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen. "Hier sind Dystopien vorherrschend. Sie zeichnen eine vom Klimawandel zerstörte Welt", sagt Christine Kranz von der Stiftung Lesen. "Tenor: Wir zerstören unsere Welt - und anschließend müssen engagierte junge Menschen sie wieder aufbauen." Beispiele hierfür sind etwa 2084 Noras Welt von Jostein Gaarder oder auch Romane von Katja Brandis wie White Zone. Die letzte Chance. Etwas anders geht das Jugendbuch Euer schönes Leben kotzt mich an! von Saci Lloyd mit dem Thema um. Hier werden Generationen- und Geschlechterkonflikte sowie Pubertätsprobleme in den Kontext einer vom Klimawandel geplagten Welt inszeniert.

Aber was bewirken solche pessimistischen Zukunftsbilder? Motivieren Sie zum Handeln? Wohl kaum, darin sind sich Umweltpsychologen heute weitgehend einig. Mit Bedrohungsszenarien erreiche man kaum ein Umdenken, sie könnten sogar schädlich sein – darauf wies bereits in den 1990-er Jahren der Berliner Psychiater Horst Petri hin. Gemeinsam mit Kollegen mahnte er in einem Offenen Brief an die Bundesregierung: "Wir sind darüber besorgt, dass eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen unter der Dauerbelastung der Umweltbedrohung leidet. Wissenschaftliche Untersuchungen und Alltagserfahrungen innerhalb und außerhalb der Familie und in der beratenden und psychotherapeutischen Praxis legen den Verdacht nahe, dass die langfristige Erfahrung zerstörerischer Kräfte in der Außenwelt auf Dauer verinnerlicht wird und im Inneren destruktive Erlebnis- und Verhaltensstrukturen bildet." Petri bescheinigte den Kindern, die mit Waldsterben, Ozonloch und Tschernobyl groß geworden waren eine "vergiftete Kindheit". Petris Botschaft scheint angekommen zu sein– zumindest in der Literaturszene. Seitdem jedenfalls sind apokalyptische Visionen im Kinderbuch weitestgehend Tabu. Jugendlichen mutet man sie dagegen weiterhin in diversen Ökothrillern zu.

"Umweltbücher reichen nicht – Kinder müssen raus in die Natur"

Florian Kaiser, Umweltpsychologe an der Universität Magdeburg, weiß, was Kinder stattdessen brauchen, um ein Umweltbewusstsein zu entwickeln: "Kinder benötigen Wissen über die Zusammenhänge im Ökosystem und über Ursachen von Umweltproblemen. Solches Umweltwissen kann Bewusstsein schaffen. Aber es motiviert noch lange nicht zum Handeln."

Dies belegt auch eine Studie des Umweltbundesamtes zu "Umweltbewusstsein und Umweltverhalten junger Menschen" von 2016: Umwelt- und Klimaschutz sind Jugendlichen zwar wichtig – ihre Bereitschaft, das eigene Handeln nach Umweltgesichtspunkten auszurichten, jedoch ist eher gering.

"Wir gehen heute davon aus, dass Kinder positive Erfahrungen mit der Natur machen müssen. Dann entwickeln sie vermutlich auch eine Bereitschaft, für die Umwelt zu handeln. Sich mit der Natur verbunden zu fühlen, scheint eine wichtige Voraussetzung für umweltbewusstes Verhalten zu sein", sagt Umweltpsychologe Florian Kaiser. Fakten aus Büchern oder Unterricht reichen nicht; Kinder müssen raus, sie brauchen Naturerlebnisse, müssen in Wald und Wiese herumstromern, wie der Philosoph und Biologe Andreas Weber in seinem Buch mit dem Titel Natur tut gut fordert.

Viele Bücher zeichnen Dystopien einer zerstörten Welt,
etwa Katja Brandis' White Zone - Letzte Chance

Aber was können Geschichten? Welchen Beitrag für ökologisches Handeln können sie leisten? Und können sie Naturerfahrung sinnvoll ergänzen und bereichern? "Erzählungen eröffnen andere Zugänge zur Thematik als Sachbücher, da sie nicht nur Fakten vermitteln, sondern vor allem die Emotionen der Leserinnen und Leser ansprechen", meint Elisabeth Hollerweger. Die Literaturwissenschaftlerin sieht in guten Geschichten ein großes Potenzial für eine erfolgreiche Bildung für nachhaltige Entwicklung – auch in der Schule. "Erzählungen mit starken kindlichen Helden vermitteln Werte, Normen und Haltungen idealerweise auf Augenhöhe ohne pädagogischen Zeigefinger", sagt Hollerweger. "Überzeugende Charaktere können junge Leser in ihrem Denken, Verhalten und Handeln beeinflussen."

Hirnforscher bestätigen dies. Aus neurologischer Sicht gebe es keine andere Form der Kommunikation, die so tief ins Bewusstsein dringe, ja derart effektiv Wissen und Werte vermittele, meint der Neurobiologe Gerald Hüther. Denn: Geschichten lösen Gefühle aus. Diese bewirken, dass wir sie viel besser abspeichern und ihre Botschaften verinnerlichen können. Doch es gibt eine Bedingung: Die Story muss gut sein.

"Belehrung von oben spricht Kinder nicht an"

Was eine gute Geschichte ausmacht, erklärt Michael Müller, Leiter des Instituts für angewandte Narrationsforschung der Hochschule der Medien Stuttgart: "Sie braucht eine starke Hauptfigur und einen fesselnden Spannungsbogen." Und der entstehe durch Konflikte oder andere Herausforderungen, die Veränderungen hervorbringen. "Mit dieser Transformation muss natürlich eine zentrale Botschaft verbunden sein", sagt Müller.

Solche Geschichten zum Klimawandel wünscht sich die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Hollerweger: "Wir brauchen mehr kreative und packende Geschichten über den Klimawandel. Positive Geschichten in dem Sinne, dass sie Kinder fesseln und dazu motivieren, die Welt zu gestalten. Mit Helden, die faszinieren." Erwachsene Protagonisten, die als Umweltschützer und Weltretter auftreten, seien da nur wenig hilfreich. "Belehrung von oben spricht Kinder nicht an, sie brauchen Helden, mit denen sie sich identifizieren können und die ihnen konkrete Handlungsmöglichkeiten innerhalb ihrer kindlichen Erfahrungswelt aufzeigen."

Ein verantwortungs- und anspruchsvoller Arbeitsauftrag für Kinderbuchautoren. Bis solche Bücher auf dem Markt sind, ein Ratschlag an umweltbewusste Eltern: Rausgehen, Natur erleben und im Dreck wühlen. Das tut Kindern aus vielerlei Gründen gut. Es fördert die Motorik, weckt Naturverbundenheit und schärft ihr Umweltbewusstsein. Und es ist definitiv gesünder als die Nase in Bücher zu stecken, die eine apokalyptische Zukunft zeichnen.

Tania Greiner
Coverfotos der Bücher: Verlagspromo

Lesetipps

Bilderbücher für Kinder von 3 bis 6 Jahren

Für die Kleinen im Kindergartenalter fallen nur wenige Titel zum Thema auf. Manche überzeugen durch eine ausdrucksstarke Bildsprache und künstlerische Erzählkraft. Doch den Autoren gelingt es leider nicht, den Betrachter mit einem positiv-optimistischen Eindruck von dieser Welt und ihrer Zukunft zu entlassen. Drei Beispiele:

 

In Maulwurfstadt benötigt Torben Kuhlmann so gut wie kein Wort um aufzuzeigen, dass Fortschritt nicht immer positive Effekte hat. In dunklen Farben erzählt er sinnbildlich die Geschichte der Industrialisierung und ihre Folgen für unseren Planeten: Ein Maulwurf lebt friedlich und allein unter der Erde. Doch dann siedeln sich dort immer mehr Maulwürfe an, der Untergrund wird ausgebaut, und auch über der Erde sieht es düster aus. Am Ende ist fast alles Grün verschwunden, sowohl über als auch unter der Erde. Aber nur fast – die Maulwürfe ziehen irgendwann die Notbremse und beschließen einen Pakt für mehr Grün.

Kurzkritik: kreativ, aber ziemlich düster

 

Es wird heiß im ewigen Eis! von Sandrine Dumas Roy und Emmanuelle Houssais geht das Thema originell humorvoll an: Die Tiere sind besorgt, das Packeis schmilzt. Und schuld daran sind die Kühe und ihre Rülpser und Pupse. Die Tiere diskutieren und denken sich zahlreiche Lösungen für das Problem aus. Kühe abschaffen? Kuhmägen entfernen? Andere Ernährung? Zwergkühe züchten, die nur Mini-Pupse lassen? Nein, kommt alles nicht in Frage! Als schließlich eine Lösung gefunden und gebaut ist (die Kuh-Abgase liefern die Energie für eine Fabrik, die das Packeis kühlen soll), ist es allerdings zu spät: Das Eis ist geschmolzen. Die Tiere feiern aber trotzdem, es wird sich schon eine Lösung für die Überschwemmungen finden! (Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich)

Kurzkritik: Sehr witzige Ideen. Fragwürdig: Sollen wir Kinder mit der optimistischen Technikgläubigkeit unserer Gesellschaft versorgen?

 

365 Pinguine von Jean-Luc Fromental und Joëlle Jolivet – Ein kreatives Buch, keine Frage. Und nebenbei können kleine Leser sogar erste Rechenkünste absolvieren (deshalb eher für 5 bis 7-Jährige). Eine Familie bekommt jeden Tag ein Paket geliefert, immer ist dasselbe drin: ein Pinguin. Das geht 365 Tage lang so. Da muss schon mal gerechnet werden, damit man den Überblick behält. Aber wer schickt die Tiere? Am Ende des Rätsels Lösung: Onkel Viktor, Ökologe, ist Absender der Pakete. Er will den Tieren einen neuen Lebensraum erschließen.

Kurzkritik: Sehr originell, doch das offene Ende ist problematisch. Es lässt junge Leser ohne Lösung zurück: Bei der Familie können die Pinguine nicht bleiben, der Onkel nimmt sie wieder mit in die Antarktis.

 

Bücher für Kinder von 7 bis 12 Jahren

Hier haben die Sachbücher die Nase vorn. An das globale Thema Klimawandel als Fiktion wagt sich kaum ein Autor her. Zwei Bücher, die es wagen

 

Somniavero ist ein spannender Zukunftsroman für Kinder ab 10 Jahre. Autorin Anja Stürzer erzählt die Geschichte eines Jungen namens Jonachan, der in die Vergangenheit reist, ins Jahr 2031, und dort strandet. Die Geschichte besteht aus fünf Büchern, das erste erzählt die Geschichte aus Jonachans Sicht, jedes weitere Buch aus dem Blickwinkel eines anderen Protagonisten: Dr. Paulus, Merlin, Akascha und Michael. Es wird allerdings nicht etwa die gleiche Geschichte erzählt, vielmehr führt die Autorin die Zukunftsreise aus verschiedenen Blickwinkeln fort. In die Geschichte eingewebt ist die sich anbahnende Klimakatastrophe, die den roten Faden bildet, aber nicht dominiert. Eine Detektivgeschichte im klassischen Sinn, in der die kindlichen Helden in letzter Sekunde einem weit mächtigeren Schurken das Handwerk legen.

Kurzkritik: spannender und origineller Lesestoff mit starken kindlichen Figuren. Die Zukunftsvisionen sind aber mitunter düster: Während es im Jahr 2031 noch Tiere gibt, sind sie im Jahr 2121 nahezu ausgestorben. Klimaflüchtlinge versuchen in Gebiete zu fliehen, die noch nicht von Dürrekatastrophen oder Überschwemmungen heimgesucht wurden.

 

 Es ist dein Planet enthält zwar sehr viele Sachinformationen, darf aber dennoch als erzähltes Sachbuch gelten. Den Rahmen bildet eine Gruppe Kinder, die frustriert in die Themenwoche Umwelt starten, schließlich aber doch gute Ideen entwickelt, was jeder machten könnte, um die Umwelt besser zu schützen.

Kurzkritik: wenig immersives, erzähltes Sachbuch mit positivem Dreh