Die Minderung von Treibhausgas-Emissionen kommt bei weitem nicht so schnell voran, wie es zum Erreichen der Klimaschutzziele des Paris-Abkommens vonnöten wäre. Ein internationales Team von Forscherinnen und Forschern hat nun sechs Maßnahmen identifiziert, mit denen sich die Erderhitzung innerhalb der nächsten 30 Jahre deutlich bremsen ließe. Zwei der sogenannten "sozialen Kippelemente" setzen auf die Wirkung von Klimakommunikation: einerseits eine verstärkte Aufklärung über den Klimawandel und die Rolle fossiler Brennstoffe, andererseits die Aufklärung über die moralischen Folgen der Nutzung fossiler Brennstoffe.
Das Team um die Soziologin und Ökonomin Ilona Otto vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung veröffentlichte die Ergebnisse ihrer Studie "Social tipping dynamics for stabilizing Earth's climate by 2050" im Fachmagazin PNAS der National Academy of Sciences der USA. Darin untersucht es, welche Klimaschutzmaßnahmen das höchste Potenzial haben, um Prozesse in Gang zu setzen, die zu einer schnellen Verbreitung neuer Technologien, veränderten Verhaltensweisen oder neuen sozialen Normen führen.
Dazu befragte das Team in einem ersten Schritt weltweit über tausend Expertinnen und Experten nach den wichtigsten sozialen Kipp-Punkten. Insgesamt wurden 207 Elemente genannt, die im Rahmen eines Workshops von 17 Experten danach ausgesiebt wurden, ob sie in den nächsten 15 Jahren oder früher ausgelöst werden können. Letztlich konnten so sechs verschiedene Kipp-Elemente destilliert werden. Zwei beziehen sich auf Klimakommunikation und Aufklärung, drei auf finanzielle Aspekte und einer auf den Bereich Leben und Wohnen:
- Bildung: verstärkte Aufklärung über den Klimawandel sowie die Bereitstellung von Informationen über die Emissionen fossiler Brennstoffe;
- Normen und Werte: Aufklärung über die moralischen Implikationen der Nutzung fossiler Brennstoffe;
- Finanzmarkt: Ausstieg aus finanziellen Vermögenswerten, die mit fossilen Brennstoffen verbunden sind (Divestment);
- Steuerung öffentlicher Gelder: Umwidmung staatlicher Subventionen weg von der Energieerzeugung aus fossilen Quellen hin zu Erneuerbaren Energien, bis diese die dauerhaft günstigere Variante der Energieerzeugung sind;
- Finanzielle Steuerung: Anreize für dezentralisierte Energieversorgung;
- Leben und Wohnen: Aufbau kohlenstoffneutraler Städte.
In der naturwissenschaftlichen Klimaforschung wird schon lange über sogenannte "Kipp-Punkte" diskutiert - also Punkte, deren Überschreiten eine unumkehrbare Entwicklung in Gang setzen - hier meist mit negativen Folgen verbunden: etwa wenn der Punkt erreicht ist, an dem das Abschmelzen des grönländischen Eisschildes nicht mehr zu stoppen ist. Die neue Studie wendet die Idee von "Kipp-Punkten" nun ins Positive und überträgt sie auf das Gebiet der sozialwissenschaftlichen Klimaforschung; Grafik: Otto et al. 2020/PNAS
In der deutschsprachigen Wissenschaftscommunity wird die Studie vorwiegend positiv aufgenommen. Sie stelle einen "sehr guten Weg" dar, um die Aufmerksamkeit auf Möglichkeiten des gesellschaftlichen Umsteuerns zu richten, kommentiert Andreas Ernst, Stellvertretender Geschäftsführender Direktor des Center for Environmental Systems Research an der Universität Kassel. Damit würden in der Klimadebatte die Potenziale einer "positiven sozialen Dynamik" betont. Es sei eine neue Hypothese, „dass es mit bestimmten, eleganten Interventionen gelingen könnte, großflächige Veränderungen auszulösen".
Es sei bereits gut erforscht, dass positive Bilder stärker zu Verhaltensänderungen motivieren als Untergangsszenarien, erinnert Katharina Hölscher, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dutch Research Institute for Transitions (DRIFT). Es gebe aber viele Wissenslücken, "weil noch nicht gut verstanden wird, wie Verhaltensänderungen und Wertewandel erreicht werden können". Die vorliegende Studie sei deshalb wichtig, um neue Forschungsrichtungen zu eröffnen - auch wenn die genannten Kipppunkte "oft noch vage umrissen" blieben und "viele unterschiedliche Interessen" beträfen.
Kritik an schmaler Datenbasis
Die Idee quasi-magischer Kippschalter, die man nur umlegen muss, um den Weg in eine klimaneutrale Zukunft zu verkürzen, ist zwar faszinierend - löst aber auch Skepsis aus. Die Studie blende "politische und wirtschaftliche Machtfragen als wesentliche Beharrungsfaktoren völlig aus", merkt Andreas Ernst an. Maria Daskalakis, Leiterin der Gruppe Umweltpolitik am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Kassel, hält die Idee für "nicht zielführend", dass es einige wenige soziale Kippelemente gäbe, mit denen das Ruder herumgerissen werden könnte. Der Ansatz müsse inter- und transdisziplinär weiterentwickelt werden.
Daskalakis empfiehlt auch aus methodischen Gründen einen "sehr vorsichtigen Umgang mit den Ergebnissen" beziehungsweise "deren Generalisierung und Ableitung von Maßnahmen". Der Rücklauf der Studie sei mit 133 von mehr als tausend Befragten niedrig gewesen, mit 56 Prozent der Antworten sei der Anteil aus Europa hoch gewesen. Die letztlich identifizierten Maßnahmen seien teilweise von nur relativ wenigen Personen empfohlen worden. So wurde etwa das ‚Bildungssystem' nur von fünf Befragten benannt.
Christiane Schulzki-Haddouti