Zusammenfassung:

Kernfusion ist ein Prozess, bei dem leichte Atomkerne zu einem schweren Kern verschmolzen werden, wobei Energie freigesetzt wird. Prinzipiell gleicht dieser Vorgang den Abläufen in der Sonne. Im Vergleich zur traditionellen Atomkraft mittels Kernspaltung ist die Kernfusion sicherer, sie produziert weniger Abfall und braucht weniger kritische Rohstoffe. Die Kernfusion könnte eine CO₂-neutrale und energieeffiziente Energiequelle sein, hat jedoch auch Nachteile.

Bereits seit Jahrzehnten wird intensive Forschung betrieben, dabei gab es deutliche Fortschritte. Dennoch befindet sich die Kernfusion weiter im Stadium der Grundlagenforschung und muss noch hohe Hürden überwinden. Eine kommerzielle Nutzung und praktische Anwendung in Kraftwerken dürfte deshalb noch mindestens viele Jahre bis einige Jahrzehnte entfernt liegen. Zudem bleiben die Kosten voraussichtlich hoch, und die gesellschaftliche Akzeptanz dieser neuen Technologie ist bislang nicht erforscht.

Es besteht Konsens in der Wissenschaft (selbst unter Befürwortern und Optimisten), dass Kernfusions-Kraftwerke nicht dabei helfen können, die bis etwa Mitte des Jahrhunderts notwendige Klimaneutralität in Deutschland oder weltweit zu erreichen.

 

Sie ist eine Verheißung – und das schon seit Jahrzehnten: Kernfusion soll, so die Befürworter, Energie im Überfluss liefern. Die Bundesregierung, die Europäische Union und weitere Staaten wie die USA, China, Japan, Großbritannien oder die Schweiz investieren viele Milliarden Euro in Erforschung und Entwicklung dieser Technologie. Immer wieder wird Kernfusion auch im Zusammenhang mit der Klimakrise und dem notwendigen Abschied von fossilen Energieträgern als mögliche Lösung genannt. Aber was genau ist Kernfusion überhaupt? Wie weit ist ihre Entwicklung? Und kann sie wirklich einen Beitrag leisten, um die Klimaziele in Deutschland zu erreichen? Antworten dazu aus der Wissenschaft

 

Als Kernfusion (engl. „nuclear fusion“) wird eine physikalische Reaktion von Atomkernen bezeichnet, bei denen leichte Kerne zu einem schweren Kern verschmelzen (fusionieren). Wenngleich mehrere Stoffe im oberen Teil des Periodensystems untersucht werden, gilt die Fusion von Deuterium und Tritium als die vielversprechendste. Die leichten Kerne verlieren bei der Verschmelzung etwas Masse, die als Energie freigesetzt wird. Prinzipiell gleicht dieser Prozess den Abläufen in der Sonne, auch sie produziert Energie durch Verschmelzung von Atomkernen.

Bei der Verschmelzung der Atomkerne entsteht ein Teilchengemisch (Plasma), das extrem heiß ist. Die Hitze soll mittels klassischer Dampfturbinentechnik genutzt werden, um Wasser in Dampf zu verwandeln, der dann Turbinen und Generatoren antreibt, um Strom und/oder Wärme zu erzeugen. Um den Prozess der Kernfusion in Gang zu setzen, braucht es Temperaturen von circa 150 Millionen Grad Celsius und sehr hohen Druck, weil die Atomkerne sich unter normalen Bedingungen voneinander abstoßen. 

Es gibt verschiedene Ansätze bei der Kernfusion (Magnetfusion sowie Trägheits- bzw. Laserfusion), die sich unter anderem darin unterscheiden, wie das entstehende Plasma in einem nutzbaren Zustand gehalten wird. Alle Ansätze befinden sich im frühen Forschungsstadium und sind noch nicht großtechnisch oder gar kommerziell einsetzbar. 

Zentrale Herausforderung bei der Kernfusion ist es, mehr Energie mit dem Prozess zu gewinnen, als benötigt wird, um ihn auszulösen. Das ist bisher nicht gelungen. Im Dezember 2022 meldete ein Team am Lawrence Livermore National Lab (LLNL) in den USA zum ersten Mal eine (im engen Sinne) positive Energiebilanz. Verfolgt wurde hier das Konzept der Laserfusion, bei der die Fusionsreaktion durch lasererzeugte Druckwellen in einer sehr kleinen Fusionskammer ausgelöst wird. In diesem sogenannten Pellet, das mit Deuterium und Tritium gefüllt ist, wird eine Temperatur von mehr als 120 Mio. Grad Celsius erzeugt. Bei dem erfolgreichen Experiment 2022 (das 2023 mit noch besseren Zahlen wiederholt werden konnte) wurde die Energie eines Laserpulses von 2,05 MJ genutzt, um eine Fusionsenergie von 3,15 MJ freizusetzen. In zahlreichen Medienberichten und öffentlichen Debatten blieb aber außen vor, dass bei einer Gesamtbilanz des Experiments auch jene Energie berücksichtigt werden muss, die für die Erzeugung der Laserpulse aufgewendet wird. Bezieht man diese mit ein, musste auch für diese Fusionsreaktion insgesamt weit mehr Energie eingesetzt werden, als sie erzeugte (zu den technischen Hürden für einen Fusionsreaktor siehe Abschnitt 6).

Kernfusion und Kernspaltung sind verschiedene Arten der Kernenergie. Beide nutzen die Bindungsenergie bzw. deren Unterschiede in Atomkernen – allerdings auf sehr verschiedene Art. Die Kernfusion verschmilzt leichte Atomkerne, zum Beispiel Deuterium und Tritium, zu Helium. Bei der herkömmlichen Atomkraft hingegen werden schwere Atomkerne etwa aus Uran oder Plutonium gespalten. Zwischen beiden Technologien gibt es erhebliche Unterschiede.

Tatsächliche Verfügbarkeit

Über die ersten Kernfusions-Reaktoren wurde bereits in den 1950er Jahren nachgedacht, parallel zu den ersten Atomkraftwerken (Akw); allerdings konnte bisher nur die Kernspaltung auch tatsächlich Strom liefern. Die Hürden, um Kernfusion praktisch nutzen zu können, waren damals zu hoch – und sind es auch noch heute (siehe Abschnitt 6). Verglichen mit Fusionsreaktoren also sind konventionelle Atomkraftwerke eine ausgereifte Technologie. In die Fusions-Technologie müssen weiterhin Forschungs- und Entwicklungs-Investitionen von vielen Milliarden Euro bzw. Dollar fließen, bevor auch nur die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Einsatzes besteht. 

Abfall

Ein wichtiger Unterschied liegt in den Abfallprodukten. Die Kernspaltung in konventionellen Kernkraftwerken erzeugt radioaktiven Abfall mit einer höheren Halbwertszeit (Reid et al. 2021), der deswegen über lange, teils sehr lange Zeiträume sicher gelagert werden muss. Dies stellt ein Umwelt- und Sicherheitsrisiko dar, und die Diskussionen um Endlager für die Abfälle sind in vielen Fällen hoch kontrovers. Bei der Kernfusion hingegen wird das Gas Helium erzeugt, das nicht radioaktiv ist. Allerdings bilden sich in den Wandmaterialien eines Fusionsreaktors radioaktive Stoffe, deren Halbwertszeit je nach Material mindestens hundert Jahre beträgt. Auch diese müssen sicher endgelagert werden, aber nicht mit so viel Aufwand wie etwa verbrauchte Brennstäbe eines herkömmlichen Akw (Zinkle/Snead 2014).

Sicherheit

Eine der größten Herausforderungen bei der Kernfusion ist es, die spezifischen Bedingungen zu erreichen, damit es überhaupt zu einer Fusion kommt. Käme es in einem Kernfusions-Reaktor zu einem Unfall, wären diese Bedingungen nicht mehr gegeben, und der ganze Prozess würde stoppen. Im Reaktor eines konventionellen Atomkraftwerks hingegen kann es nach Störfällen zu Kernschmelzen und großflächiger und langanhaltender Verschmutzung der Umwelt kommen, so wie in Tschernobyl 1986 oder in Fukushima 2011. Das liegt daran, dass bei der Kernspaltung ein Prozess in Gang gesetzt wird, der sich verselbstständigen kann und deshalb in einem Akw mit hohem Aufwand gesteuert werden muss. Bei Problemen kann diese Kettenreaktion außer Kontrolle geraten und verheerende Schäden anrichten.

Rüstungskontrolle

Atomkraftwerke können indirekt dazu genutzt werden, Atomwaffen zu bauen, weil sie Plutonium produzieren, das nach Wiederaufbereitung und Anreicherung waffentauglich ist. Bei Fusionsreaktoren hingegen entstehen im normalen Betrieb weder Uran noch Plutonium.  Und das für die Fusion verwendete radioaktive Tritium kann ohne spaltbares Material nicht zum Bau einer Atombombe genutzt werden. Auch bei anderen, theoretisch denkbaren Möglichkeiten, einen Fusionsreaktor für den Atomwaffenbau zu verwenden, gibt es vergleichsweise einfache Überwachungsmöglichkeiten. Eine Studie zum Thema kam zu dem klaren Ergebnis, dass „das Proliferationsrisiko durch Kernfusionsreaktoren viel niedriger sein kann als das vergleichbare Risiko durch Kernspaltungsreaktoren, wenn für geeignete Sicherheitsvorkehrungen gesorgt wird” (Glaser/Goldston 2012).

Rohstoffe

Nicht zuletzt unterscheiden sich konventionelle Atomkraftwerke und Fusionsreaktoren erheblich bei den Rohstoffen, die sie für den Betrieb benötigen. Für Fusionsreaktoren würde voraussichtlich Deuterium und Tritium gebraucht, und dies in vergleichsweise kleinen Mengen. Während Deuterium ausreichend häufig natürlich vorkommt, muss Tritium zwar durch eine Reaktion von Lithium mit Neutronen hergestellt werden, dies kann perspektivisch über das bei der Fusion freiwerdende Neutron im Reaktor bzw. der Reaktorwand selbst geschehen. Jedoch ist Lithium ein Material, dass in großem Umfang auch beim Ausbau der erneuerbaren Energien oder für Batterien von Elektro-Autos gebraucht wird, seine begrenzte Verfügbarkeit wird in der Forschungsliteratur als Problem gesehen (Junne et al. 2020). Prinzipiell aber gilt die Brennstoff-Frage bei der Kernfusion als relativ einfach lösbar. Atomkraftwerke hingegen brauchen (angereichertes) Uran oder Plutonium, das im Vergleich zu den Ausgangsmaterialien der Kernfusion selten, teuer, teils sehr giftig und aufwändig zu produzieren ist.

Kernfusion ist an sich eine CO₂-neutrale Energiequelle (allerdings fallen beim Bau der Reaktoren derzeit Treibhausgase an, etwa für Herstellung und Transport der Baustoffe, Betrieb der Baumaschinen usw.) Außerdem ist Kernfusion rein stofflich betrachtet eine sehr effiziente Energiequelle, laut Max-Planck-Institut für Plasmaphysik könnte ein Gramm Fusionsbrennstoff theoretisch so viel Energie liefern wie elf Tonnen Kohle.

Gegenüber Wind- und Solarkraftwerken hätten Fusionsreaktoren den Vorteil, unabhängig vom Wetter sehr viel Energie erzeugen zu können (man spricht von gesicherter oder gesichert einsetzbarer Leistung – mehr dazu in Abschnitt 7). Außerdem würden sie vermutlich viel weniger Fläche(n) benötigen. Zwar gibt es noch keine exakten Zahlen für Fusionsreaktoren, da sie noch nicht existieren, doch Atomkraftwerke zum Beispiel brauchen – je nach Quelle – im Schnitt nur rund 0,4 bis vier Prozent der Fläche von Solar- oder Windkraftanlagen derselben Leistung (Smil 2015, Lovering et al. 2022).

Bisher gibt es keine praktisch und kommerziell nutzbaren Fusionsreaktoren. Deshalb können sie zurzeit auch nicht dabei helfen, die Energieversorgung zu dekarbonisieren – dies aber muss zumindest in den entwickelten Industriestaaten bereits in den allernächsten Jahren und bis spätestens Mitte des Jahrhunderts passieren (IPCC 2023, AR6, SYR, SPM.B.6). Erneuerbare Energien wie Wind- oder Solarkraft stehen sofort und technisch ausgereift zur Verfügung, um treibhausgas-intensive Kohle- oder auch Gaskraftwerke zu ersetzen. Die Kernfusion hingegen kommt schlicht zu spät, um die Klimaziele zu erreichen (siehe auch Abschnitt 5).

Diese Einschätzung teilt offenkundig auch der IPCC: Im Kapitel 6 von Band 3 seines Sechsten Sachstandsbericht (AR6) aus dem Jahr 2022, in dem Optionen und Technologien für die Emissionsminderung im Energiesektor analysiert werden, taucht die Kernfusion nicht auf. Auch in wissenschaftlichen Energiesystemstudien ganz allgemein findet die Kernfusion in der Regel keine Berücksichtigung – das liegt vor allem daran, dass für die Energiesystemmodellierung als Eingangsdaten einigermaßen zuverlässige Schätzungen zum Beispiel zu Kosten und Wirkungsgraden von Technologien benötigt werden. Die Fusionsforschung jedoch befindet sich in einem derart frühen Stadium, dass solche Schätzungen noch nicht vorliegen. 

Aber selbst wenn es bereits funktionierende Fusions-Kraftwerke gäbe, hätten sie deutliche Nachteile gegenüber erneuerbaren Energien. Nur große Nationen oder Unternehmen können Fusionsreaktoren betreiben, weil sie komplex und teuer sind. Schon jetzt zeigt sich anhand des Fusions-Forschungsreaktors ITER in Frankreich, dass gewissermaßen ein Graben durch die Weltgemeinschaft geht: Nationen, die daran beteiligt sind (EU, USA, Russland, China, Indien, Südkorea, Japan, Großbritannien, Schweiz) haben gegenüber dem Rest der Welt einen Wissensvorsprung (Carayannis et al. 2022). Erneuerbare Energien hingegen sind verglichen mit Fusionsreaktoren „low-tech“, Solaranlagen zum Beispiel können sehr einfach installiert werden und auch in Ländern mit geringen Einkommen ohne ausgebautes Stromnetz nicht nur zu Klimaschutz, sondern auch zur Erst-Elektrifizierung und Armutsbekämpfung beitragen (Bogdanov et al. 2021, Ortega-Arriaga et al. 2021, Wassie/Adaramola 2021).

Außerdem wird die Kernfusion auch auf lange Sicht sicherlich teurer sein als erneuerbare Energien. Laut einer Modellrechnung für Reaktoren vom Typ Tokamak, dem derzeit verbreitesten Typ, dürften diese im Jahr 2040 selbst dann Schwierigkeiten haben, wettbewerbsfähigen Strom zu produzieren, wenn man annimmt, dass die Kosten fallen, sobald die Technologie im Einsatz ist; die Autoren beziffern die Kosten dann auf 150 US-Dollar pro Megawattstunde (Lindley et al. 2023).

Eine Studie für das europäische Fusionsprogramm war im Jahr 2005 zwar zu niedrigeren Zahlen gekommen: Je nach Modell 50 bis 90 Euro, inflationsbereinigt ergibt das für das Jahr 2023 circa 70 bis 125 Euro (74 bis 133 US-Dollar). Doch selbst damit wäre die Kernfusion noch deutlich teurer als die Erneuerbaren: Im Jahr 2021 schwankten in Deutschland die Stromgestehungskosten laut Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) für Windräder an Land zwischen 40 und 80 Euro und für große Solaranlagen zwischen 25 und 45 Euro pro Megawattstunde. Um das Preisniveau mit dem von Fusionskraftwerken zu vergleichen, die wetterunabhängig Strom liefern würden, müssten allerdings bei den Erneuerbaren noch die Kosten für Speicher berücksichtigt werden. Für die aber werden langfristig weitere starke Preisrückgänge erwartet; die erwähnte Fraunhofer-Berechnung geht davon aus, dass erneuerbare Energie im Jahr 2040 inklusive Speicherkosten bei großen Solaranlagen zwischen 15 und 60 Euro pro Megawattstunde kosten würde. Selbst wenn sich solche Schätzungen als zu optimistisch herausstellen sollten, ist das Kostenniveau, das die erneuerbaren Energien bereits erreicht haben und künftig erreichen werden, eine sehr hochliegende Latte für Fusionsreaktoren.

Technologisch wird derzeit an zwei grundlegenden Konzepten geforscht (siehe dazu auch Abschnitt 1): Das eine sind plasmabasierte Fusionsreaktoren, bei ihnen wird die kinetische Energie der Wasserstoffkerne in einem sehr heißen Plasma genutzt, um die Fusionsreaktion zu initiieren. Hier existieren zwei Bauformen, bezeichnet als Tokamak und Stellarator, wobei derzeit in der Forschung intensiv diskutiert wird, welche Variante weiterverfolgt werden soll. Sowohl Regierungen als auch privat finanzierte Unternehmen entwickeln aktuell solche Fusionsreaktoren. Die Prognosen beider Gruppen für einen ersten einsatzfähigen Reaktor unterscheiden sich deutlich.

Die von Regierungen im Bau befindliche Anlage ITER in Frankreich soll Mitte bis Ende der 2030er Jahre zum ersten Mal Plasma erzeugen, aus dem sich Energie gewinnen lässt. Der erste Demonstrationsreaktor, der zu Testzwecken an das europäische Stromnetz angeschlossen werden kann, soll gemäß des europäischen Forschungsplans rund 20 Jahre später laufen – also Mitte der 2050er Jahre. Ein Fusionsreaktor, der normaler Bestandteil im Kraftwerkspark eines Energieversorgers ist, wäre noch erheblich später zu erwarten. 

Die Zeitpläne der privaten Unternehmen sind deutlich ehrgeiziger. Eine US-Firma möchte bereits im Jahr 2029 Strom produzieren, ein anderes in den frühen 2030er Jahren; ein deutsches Start-Up warnt hingegen, dass es noch bis Mitte der 2040er Jahre dauern könnte.

Doch seit an den ersten Fusionsreaktoren geplant wird, werden regelmäßig Zeitpläne gerissen. Noch 2004 zum Beispiel glaubten die ITER-Forscher, der erste Demo-Reaktor könne im Jahr 2033 ans Netz gehen. Acht Jahre später kalkulierten sie mit dem Jahr 2044. Im Jahr 2018 schließlich kündigte man diesen Reaktor für die 2050er Jahre an. In einer aktuellen Übersichtsstudie zur Fusionsforschung heißt es denn auch:

„Daher ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Zeitpläne von Organisationen, sowohl öffentlicher als auch privater Natur, nicht als glaubwürdige Quellen für Zeitpläne für die Fusion gelten. Viele Projektentwickler haben Pläne zur Markteinführung veröffentlicht, die einem ‚Moonshot‘-Ansatz entsprechen. Das heißt alle Meilensteine --werden ohne Zwischenfälle und Verzögerungen erreicht, und es wird davon ausgegangen, dass für alle Aktivitäten auf jeder Stufe eine angemessene Finanzierung zur Verfügung steht [...] Das heißt nicht, dass die Zeitpläne unerreichbar sind, aber sie sind oft optimistisch, um Investitionen anzuziehen, und es fehlt an begleitenden Daten, die die Vorhersagen untermauern.“ (Griffiths et al. 2022)

Bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten schrieb das Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages:

„In der fast 50-jährigen Geschichte der Fusionsforschung wurden die Schwierigkeiten für die Entwicklung eines Fusionskraftwerkes unterschätzt, so dass der Realisierungshorizont weiter in die Zukunft gerückt werden musste und quasi zu einem ‚Moving Target‘ wurde.“ (Grunwald et al. 2002)

Nicht nur Zeitpläne wurden in der Vergangenheit häufig verfehlt, sondern auch Kostenprognosen. Beim internationalen Großprojekt ITER im südfranzösischen Cadarache lagen die Schätzungen im Jahr 2008 bei rund 5,9 Milliarden Euro (exklusive der Sachleistungen, die die Projektpartner in den beteiligten Ländern eigenverantwortlich erbringen). Zwei Jahre später ging die EU-Kommission bereits davon aus, dass allein sie 7,3 Milliarden Euro zuschießen müsste (da die Europäische Union 45,5 Prozent der Gesamtkosten trägt, entsprach das einer Verdreifachung). Im Jahr 2016 dann nannte ITER nochmals höhere Kosten: bis zu 22 Milliarden Euro.  Im Mai 2022 hat das Europäische Parlament in einem Beschluss seine Besorgnis ausgedrückt, dass nochmals „erhebliche Kostensteigerungen und/oder weitere Verzögerungen bei der Durchführung des ITER-Projekts“ drohen könnten. Als die Projektleitung im Juli 2024 einen neuen, nach hinten verschobenen Zeitplan vorlegte, wurde auch von weiteren Kostensteigerungen um fünf Milliarden Euro gesprochen.

Von diesen plasmabasierten Fusionsreaktoren ist das zweite grundlegende Konzept zu unterscheiden: die sogenannte Laser- bzw. Trägheitsfusion. Durch die jüngsten Forschungsfortschritte im Lawrence Livermore National Lab in den USA (siehe Abschnitt 1) hat dieses Konzept gegenüber Plasmareaktoren viel Oberwasser bekommen. Das Rennen um das beste, kostengünstigste, effizienteste und schnellst-verfügbare Reaktorkonzept gilt damit wieder als völlig offen. Im Feld der Laserfusion sind zuletzt ebenfalls eine Reihe finanziell stark ausgestatteter Start-Up-Unternehmen entstanden, die eine schnelle kommerzielle Umsetzung anstreben. Verlässliche Schätzungen zu künftigen Kosten und Zeitplänen fehlen aber auch hier.

Die Fusionsforschung konnte seit den 1980er Jahren erhebliche Erfolge verzeichnen, aber es bleiben noch zahlreiche Probleme zu lösen. „Die Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte sind frustrierend langsam gewesen“, bekannte 2019 der US-Wissenschaftler Mohamed Abdou, der selbst intensiv an der Kernfusion geforscht hat.

In der Fachliteratur werden eine Reihe von Hürden genannt, die überwunden werden müssen, bevor es funktionierende Fusionskraftwerke geben kann (siehe zum Beispiel Donné et al. 2017; Takeda/Pearson 2018):

  • Erstens gelingt es in plasmabasierten Fusionsreaktoren bisher nicht, das energiehaltige Plasma verlässlich zu erzeugen, zu handhaben und auch nur ansatzweise so lange stabil zu halten, dass eine Nutzung möglich wird.
  • Zweitens fehlt es für sie noch an speziellen Materialien, die das Plasma umfassen und sowohl großer Hitze als auch Strahlung standhalten können.
  • Drittens ist noch nicht vollends geklärt, wie die erzeugte Hitze aufgefangen und abgeleitet werden kann, um sie außerhalb des Reaktors für die Strom- oder Wärmeproduktion zu nutzen. Außerdem sind starke Magnete erforderlich, um das Plasma kontrollieren zu können. 
  • Viertens ist es bisher nicht gelungen, einen echten Tritium-Kreislauf aufzubauen, der theoretisch möglich ist und in der Praxis unerlässlich, um die Kernfusion zu betreiben, weil die einzige Quelle für Tritium bisher bestimmte ältere Akw-Typen sind, die nach und nach abgeschaltet werden. Ab Mitte der 2030er Jahre also könnte die Fusionsforschung deswegen vor einem Nachschub-Problem stehen.

Auch bei dem anderen Grundkonzept, der Laser- bzw. Trägheitsfusion, sind noch zahlreiche Probleme zu lösen. Zum Beispiel müsste für eine kontinuierliche Fusionsreaktion eine Vielzahl von Optimierungen hinsichtlich der Brennzeit im Reaktor vorgenommen, und es müssten kontinuierlich neue Pellets zugeführt werden.

Manche Kritiker der Fusionsforschung bezeichnen mindestens einige der genannten Probleme als unlösbar. Zu ihnen zählt etwa der Teilchenphysiker Michael Dittmar, der vor seiner Pensionierung an der ETH Zürich und am Kernforschungszentrum CERN in Genf arbeitete; 2019 hat er für die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen ein zweiteiliges Gutachten zum Thema verfasst, seine Bewertungen jedoch bisher nicht in wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht.

Sollten die ersten kommerziell einsetzbaren Fusionskraftwerke ab den 2040er Jahren im optimistischen oder ab den 2060er Jahren im konservativen Szenario ans Netz gehen, wird das Stromnetz in den großen Staaten voraussichtlich von einer Mischung aus erneuerbaren Energien und Atomkraftwerken dominiert werden. Denn sowohl die EU als auch China und die USA haben angekündigt, zwischen 2045 und 2060 klimaneutral zu sein. Mehrere Studien, die sich mit der künftigen Rolle von Fusionskraftwerken beschäftigen, gehen von diesem Szenario aus (Hamacher et al. 2013; Nicholas et al. 2021). Etliche andere Studien zeigen, dass der jeweilige nationale Energiebedarf theoretisch auch allein durch erneuerbare Energien gedeckt werden könnte (Breyer et al. 2022; Zappa 2019). Jedenfalls herrscht in der Forschung Konsens, dass Erneuerbare in einigen Jahrzehnten einen sehr großen Teil des weltweiten Energiebedarfs decken werden.

Die Frage ist, welche Rolle Fusionskraftwerke in diesem Energiesystem der Zukunft spielen können und sollen. Fusionskraftwerke sind ähnlich wie Gas-, Kohle- oder Atomkraftwerke das, was in traditionellen Energiesystemen als „grundlastfähig“ bezeichnet wird. Darunter versteht man, dass sie zu jeder Zeit unabhängig vom Wetter eine bestimmte Menge an Energienachfrage bedienen können. Doch je höher in einem Energiesystem der Anteil Erneuerbarer Energien ist, desto weniger wichtig (oder geradezu hinderlich) werden statisch produzierende „Grundlastkraftwerke“ – viel wichtiger werden Flexibilität und schnelle Regelbarkeit: Kann ein Kraftwerk einspringen, wenn Solar und Wind gerade nicht genug Energie liefern?

Zwar sind Fusionskraftwerke prinzipiell in der Lage, ihre Leistung anzupassen (Ward/Kemp 2015). Allerdings verschlechtert ein Hoch- und Runterfahren die Wirtschaftlichkeit der Anlagen. In den Energieversorgungs-Systemen einer dekarbonisierten Welt werden Fusionskraftwerke laut diversen Studien mit zwei anderen Technologien darum konkurrieren, als Ergänzung für die billigeren, aber schwankenden Erneuerbaren zu dienen: zum einen Atomkraftwerken, zum anderen Gaskraftwerken mit CCS-Abscheideeinrichtungen [unseren Artikel speziell zur CCS-Technologie finden Sie hier]. Da Fusionsreaktoren aber selbst unter Volllast vergleichsweise teure Energie produzieren (siehe Abschnitt 4) werden, müssten sie womöglich subventioniert oder anderweitig (politisch) gestützt werden, um am Markt bestehen zu können.

Eine Studie, die speziell die mögliche Rolle von Fusionskraftwerken in einem künftigen, von Erneuerbaren dominierten Energiesystem untersucht hat, kommt folglich zu dem Fazit:

„Auch wenn es weiterhin überzeugende Gründe gibt, Fusionskraftwerke zu entwickeln, so werden diese Gründe doch geschwächt durch den Zeitpunkt, zu dem diese Kraftwerke verfügbar sein werden.“ (Nicholas et al. 2021)

Ein Reaktor, der sogenannte Grundlast-Energie liefern kann, könnte in der post-fossilen Energiezukunft obsolet sein, mahnt das Forschungsteam. Es rät deshalb dringend dazu, bei der Fusionsforschung und dem Design künftiger Reaktoren stärker auf deren flexible Regelbarkeit zu achten.

Manche Studien sehen eine mögliche Rolle für Fusionsreaktoren auch in der Produktion von Wasserstoff, der in einem klimaneutralen Energiesystem eine Schlüsselrolle spielen soll [siehe unseren Artikel zum Thema] und dann in sehr großen Mengen gebraucht werden wird (Gi et al. 2020).

Neben technischen und finanziellen Hürden könnte auch die öffentliche Meinung ein Problem für die Kernfusion werden. Beispiele anderer Technologien zeigen, etwa der Atomkraft in Deutschland, dass soziokulturelle Gründe und gesellschaftliche Abwägungen letztlich den Ausschlag geben können, ob und wie eine Technologie zum Einsatz kommt.

Unter Fusionsbefürwortern wird deshalb bereits diskutiert, wie eine positive gesellschaftliche Stimmung für diese neue Technologie gesichert werden könne (Hoedl 2023). Eine Studie mit Probanden aus Großbritannien und Deutschland ergab beispielsweise, dass Fusionsreaktoren Akzeptanzprobleme bekommen könnten, sollten sie mit herkömmlicher Atomkraft in einen Topf geworfen werden (Jones et al. 2019).

Auch das Büro für Technikfolgenabschätzung des Bundestages betont:

„Die gesellschaftliche Akzeptanz der Fusionstechnologie wird in hohem Maße davon abhängen, dass Umweltkriterien zum Zeitpunkt der Technologieentscheidungen angemessen berücksichtigt werden. […] Zur Vermeidung von Akzeptanz- und Vertrauenskrisen ist ein frühzeitiger intensiver und ergebnisoffener Dialog zwischen Wissenschaft, Interessengruppen und der Öffentlichkeit erforderlich.“ (Grunwald et al. 2002)

Grob zusammengefasst in ganz einfachen Worten

Im Prinzip könnte Kernfusion klimafreundliche Energie liefern. Doch sie ist Jahrzehnte entfernt von einem praktischen Einsatz; selbst für einige ganz grundlegende Probleme fehlen der Forschung noch Lösungen. Um den Klimawandel zu bremsen, müssen jedoch fossile Kraftwerke in den allernächsten Jahren ersetzt werden – dafür kommen Fusionsreaktoren zu spät. Erneuerbare Energien hingegen stehen bereits zur Verfügung und werden auch langfristig wohl billiger sein als Fusionskraftwerke.

Rico Grimm/Klimafakten
Stand: April 2024