Die Anekdote ist zu schön, um sie nicht zu erzählen: Ein eisgekühlter Whiskey war es, der den französischen Klimawissenschaftler Claude Lorius auf die Idee seines Lebens brachte. An einem Abend im Jahr 1964 trank er ihn in der Antarktis-Station Dumont d’Urville gemeinsam mit ein paar Kollegen. Es war das Ende eines langen Expeditionstages, sie stießen an auf eine erfolgreiche Bohrung im ewigen Eis - und kühlten das Getränk mit einigen Brocken eben jenes, vom Kernbohrgerät zutage geförderten Eises. Der warme Whiskey ließ Luft aus dem Eis perlen. Und da schoss es Lorius in den Kopf: Dies war Luft aus der Vergangenheit - aus jener Zeit, in der das Eis einst entstand! Ein Klimaarchiv von unermesslichem Wert für die Wissenschaft war gefunden.

Lorius war damals Anfang 30 und auf einer seiner ersten Antarktis-Expeditionen. Insgesamt 22 Mal sollte er im Laufe seines Lebens den weißen Kontinent bereisen, insgesamt verbrachte er dort rund zehn Jahre seines Lebens, eine ganze Reihe bahnbrechender Forschungsaufsätze hat Lorius verfasst. Fünfzig Jahre nach dem Heureka-Moment mit Whiskey ist Lorius nun ein Kinofilm gewidmet: "Zwischen Himmel und Eis", gedreht von Oscar-Preisträger Luc Jacquet (dem Macher von "Die Reise der Pinguine"). Am 26. November ist der Film in den deutschen Kinos angelaufen.

83 Jahre alt ist Lorius heute, Luc Jacquet ist mit ihm noch einmal in die Antarktis gereist. Mit atemberaubenden Landschaftsaufnahmen und eindrucksvollem Archivmaterial (teilweise einst von Lorius selbst gedreht) erzählt der Film ein Forscherleben - und zugleich einen maßgeblichen Teil der Klimawissenschaften.

Klimaforschung als Abenteuergeschichte, als Heldenepos

Als 23-jähriger Student hatte sich Lorius auf eine Annonce beworben, in der ein Expeditionsteilnehmer gesucht wurde. Mit zwei Kollegen reiste er dann ans Ende der Welt, lebte zehn Monate mit ihnen auf den 24 Quadratmetern der ersten französischen Antarktis-Station Charcot, die wie ein Termitenbau unter den Schnee gegraben war. Sie war auf lediglich 8 Grad geheizt, es roch nach Brühwürfeln, Männerschweiß, verbranntem Kerosin. Die Kleidung wurde nicht gewaschen, sondern solange getragen, bis sie zerfiel.

Egal wie stark es stürmte, auch wenn die Temperaturen unter minus 50 Grad Celsius lagen - Tag für Tag kletterten die Forscher aus ihrem Bau, lasen Thermometer ab, sammelten Schneeproben, erkundeten mit seismologischen Sprengungen die Topografie der antarktischen Landmasse, tausende Meter unter dem Eis. "Hundertmal verfluchte ich die Kälte", sagt Lorius, in der deutschen Filmfassung gesprochen von der tief vibrierenden Stimme des TV-Moderators Max Moor. "All dies wurde irgendwann nur ein Punkt in irgendeiner Tabelle..."

Wochenlang und in ständiger Lebensgefahr zogen sie mit Schneeraupen und Schlitten ihre Forschungsgeräte und Versorgungsgüter über das Eis. Immer stapfte jemand voran, angeseilt und mit einer langen Stange stochernd nach Gletscherspalten. "Dort, wo wir sind, steht auf der Karte: nicht kartografiertes Gebiet." Transportflugzeuge, die die Forscher und ihre wertvollen Proben abholen sollten, explodierten. Der Film erzählt Klimaforschung als Abenteuergeschichte, als Heldenepos. Und ganz nebenbei zeigt sich ein eindrucksvoller Kontrast zwischen der Ausrüstung während der 1950er und 60er Jahre und dem modischen Outdoor-Equipment, mit denen heute der greise Lorius im Eis steht.

Nach seiner Entdeckung im Whiskey-Glas jagte Lorius jahrzehntelang nach immer älterem Eis: "Das Eis ist wie ein Buch - jeder Schneefall eine neue Seite." Je tiefer die Bohrung, desto weiter zurück reicht das Klimaarchiv. Aus den Proben ließ sich nicht nur der CO2-Gehalt der überlieferten Luft ermitteln. Dank der von dem Dänen Willi Dansgaard und dem Schweizer Hans Oeschger entwickelten Isotopenanalyse (also über die Messung des Verhältnisses von schweren und leichten Formen von Wasserstoff) verriet das prähistorische Eis außerdem Temperatur und Luftfeuchte, die zum Zeitpunkt des jeweiligen Schneefalls herrschten. Lorius und seine Teams entwickelten Kernbohrgeräte, die unter den Extrembedingungen der Antarktis funktionierten. Meter um Meter von schmalen Eiszylindern förderten sie so - rund 900 Meter Eisbohrkerne enthielten etwa 40.000 Jahren Klimageschichte.

In den 1970er und 80er Jahren, mitten im Kalten Krieg also, arbeitete Lorius mit US-amerikanischen Forschern ebenso wie mit sowjetischen. In deren Antarktis-Station Wostok gelang eine Bohrung bis in 3.000 Metern Tiefe - über hunderttausende von Jahren ließ sich so der CO2-Gehalt der Erdatmosphäre rekonstruieren. Vier Eiszeit-Zyklen der Erde wurden so erkennbar mit ihrem wiederkehrenden, gleichförmigen Muster natürlicher Schwankungen von CO2-Gehalt und Temperatur, angetrieben von den langsamen Veränderungen der Erdumlaufbahn um die Sonne. Und es wurde sichtbar, dass dieses Muster vor gut hundert Jahren abgebrochen ist, dass der CO2-Gehalt der Atmosphäre seitdem steil ansteigt - und zwar nicht, wie in post-glazialen Phasen, einige hundert Jahre nach einer von der Sonne getriebenen Erderwärmung, sondern praktisch zeitgleich mit einem starken Temperaturanstieg. Dass wir derzeit eine erdgeschichtlich beispiellose Erwärmung sehen, war so mit großer Sicherheit bewiesen - und ebenso, dass die durch menschliche Aktivitäten verursachten Treibhausgase deren Hauptursache sind. Was zuvor lediglich eine These war, konnte dank Lorius' Forschungen fortan als gesichertes Wissen gelten.

"Was nützen Preise, wenn niemand die Botschaft hört?"

In seinem langen Leben hat Claude Lorius die Folgen des Klimawandels mit eigenen Augen gesehen - den Rückgang von Alpengletschern, die Beschleunigung der Eisschmelze in der Antarktis. Mahnend stellt Luc Jacquet den greisen Forscher zu rührender Musik in abgebrannte Wälder, neben zerfallene Häuser, in das ansteigende Meer vor einer Südseeinsel, an deren Strand Kinder spielen. Diese Bilder wirken arg überzogen, kitschig, melodramatisch. Und sie wären auch gar nicht nötig gewesen, denn die Grundgeschichte des Films ist auch so stark genug: Die eines greisen Forschers, der ermattet und traurig mit ansehen muss, wie sich seine Erkenntnisse und Vorhersagen bestätigen - aber im Mahlwerk von Medien und Weltpolitik verschwinden.

Am Ende des Films wird Lorius in Talkshows gezeigt, eine lange Abfolge von Schnipseln aus dem allzu bekannten Fernsehzirkus, in dem Moderatorinnen und Moderatoren mit erstauntem Augenaufschlag die immergleichen, flachen Fragen stellen - ob denn dies stimme, ob denn das sicher sei. Es wird aufgezählt, wie Lorius eine Auszeichnung nach der anderen erhält. "Was nützen Preise, wenn niemand die Botschaft hört", fragt Lorius und schließt mit den Worten: "Meine Geschichte ist zu Ende - jetzt müssen wir nur noch handeln."

Sehr hoffnungsvoll klingt der alte Mann nicht.

tst