Wenn die Schriftstellerin Monique Roffey von ihrer Kindheit erzählt, klingt es wie im Märchen: "Als junges Mädchen schnorchelte ich nach den Korallen in der Bucht von Grande Riviere, und das Wasser war glasklar. Die Korallenriffe standen in voller Pracht, und zwischen ihnen spielten bunte kleine Fische." Die 52-jährige wuchs im  karibischen Inselstaat Trinidad und Tobago auf – einem Naturparadies vor der Küste Venezuelas. Dass Roffey an einem verregneten Septemberabend in Berlin über ihre Erinnerungen an das einsame Fischerdorf Grande Riviere mit seiner Korallenbucht spricht, hat wenig mit Fernweh oder Nostalgie zu tun.

Auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin, das in diesem Jahr zum 16. Mal stattfindet, las die heute in London lebende Schriftstellerin am Wochenende aus ihrem Schildkrötentagebuch. Und - das war das Besondere an diesem Abend - sie diskutierte mit dem Klimawissenschaftler Dirk Notz über Umweltschutz und Klimaveränderung. Das Literaturfestival versuchte sich in Kooperation mit dem Wissenschaftsjahr Meere und Ozeane an einem seltenen Format – nämlich Kunst und Wissenschaft an einem Ort zusammenzubringen. Im Rahmen des Projekts "Reading the Currents" (zu deutsch: "Die Meeresströmungen lesen") präsentieren zwölf Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus aller Welt eigene Texte zum Thema Meer und diskutieren dann darüber mit Fachwissenschaftlern. 

"Wir zerstören die Natur schneller, als wir sie erforschen können"

Das Schildkrötentagebuch von Monique Roffey erzählt von bedrohten Lederschildkröten in Trinidad und Tobago. Sie waren vor nicht allzu langer Zeit noch vom Aussterben bedroht, stehen aber nach jahrzehntelangem Kampf einiger Anwohner nun endlich unter Schutz. Für Roffey sind die Lederschildkröten ein Mysterium, und auch der Wissenschaft sind viele Aspekte ihres Verhaltens bis heute ein Rätsel. "Diese Schildkröten sind Urtiere und viel älter als unsere Zivilisation: Sie erinnern uns an die Erdgeschichte, es sind die Dinosaurier unserer Zeit." Die Schriftstellerin, lockige lange Haare und bunte Muschelketten, redet sich in Rage: Die Menschen sollten sich auf ihre Herkunft besinnen und wieder das Leben außerhalb ihrer eigenen Komfortzone fühlen – nur so könnten sie verstehen, was sie mit ihrer Lebensweise gerade zerstören.

Neben Roffey sitzt der Wissensachaftler Dirk Notz vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. Er hört ihr aufmerksam zu, nickt, hakt ein: "Was mir Angst macht ist, dass wir vielleicht die letzte Generation sind, die bestimmte Naturereignisse überhaupt noch erforschen kann, bevor sie verschwunden sind. Wir haben viele Geheimnisse der Natur noch nicht verstanden, und auch erst ein winzigen Bruchteil des Meereslebens erforscht", sagt Notz. Er arbeitet momentan in Spitzbergen, einem der wenigen bewohnten Orte im arktischen Ozean. "Vor 15 Jahren habe ich dort noch die echte Arktis erlebt: Eine weiße Schnee- und Eisdecke, Minusgrade, klirrend kalt. Heute regnet es regelmäßig, und wir haben Außentemperaturen von schlappen fünf und sechs Grad plus."

Während die Korallen vor Trinidad und Tobago durch die Versauerung der Ozeane absterben, schmelze in der Arktis das Meereis in rasanter Geschwindigkeit.  "Hier ist die Schnittstelle, wo ich nicht mehr ganz Wissenschaftler sein kann", sagt Notz. "Ich versuche, den Klimawandel der breiten Bevölkerung zu erklären - egal ob im Kindergarten oder in Unternehmen. Als Wissenschaftler könne er natürlich keine Handlungsanweisungen geben, wohl aber Anstöße zu Veränderung. "Ich glaube, nur wenn die Bevölkerung das Problem wirklich versteht, kann sie ja auch etwas ändern."

Wie Kurse in Kreativem Schreiben die Wissenschaft voranbringen

Damit seine Forschungsergebnisse nicht bloß einem kleinen Fachpublikum zugänglich werden, organisiert der Klimaforscher für seine Doktoranden Kurse für kreatives Schreiben. Dazu lädt er Schriftsteller wie Monique Roffey ein. "Spannend finde ich, wie sich durch den Prozess des Schreibens das wissenschaftliche Denken verändert", erzählt Notz. Viele Leute glauben, der wissenschaftliche Prozess ende, bevor man anfängt, den Artikel zu schreiben – also dass dies zwei getrennte Dinge seien. In Wahrheit komme die Wissenschaft "erst beim Schreiben selbst zum Abschluss." Durch die  Zusammenarbeit mit Schriftstellern würden seine Studenten verstehen, wie ein Text funktioniert - und dadurch werde auch die Wissenschaft viel klarer. Notz: "Wenn sich ein Paper schlecht liest, haben die Wissenschaftler meistens auch schlecht gedacht."

Erfolg hatte der Klimaforscher damit bereits: Über seine letzte Studie berichteten die Medien ausführlich. Gemeinsam mit einer Kollegin stellte Notz einen direkten und anschaulichen Zusammenhang zwischen dem Ausstoß von Treibhausgasen und der Eisschmelze in der Arktis her. Danach führt jede Tonne emittiertes Kohlendioxid zum Verlust von drei Quadratmeter Arktiseis. (Als Wissenschaftler gab Notz zu dieser griffigen Zahl natürlich einen Unschärfebereich an: plus/minus 0,3 Quadratmeter.) Die einfache Verknüpfung von Emissionen und beobachteten Eisschwund brachte die Medien zu einer ganzen Reihe eingängiger Vergleichen: So lässt eine durchschnittliche Autofahrt über 2.000 Kilometer einen Quadratmeter Arktis-Meereis schmelzen, ein Hin- und Rückflug von Frankfurt/Main nach San Francisco pro Person etwa fünf Quadratmeter. "Die Studie hatte deshalb so großen medialen Erfolg, weil es möglich war, den Klimawandel auf sich selbst zu beziehen", ist sich  Notz sicher. Unter den Zahlen aus wissenschaftlichen Studien, die es normalerweise in die Medien schaffen, können sich nur wenige Menschen konkret etwas vorstellen.

Das Literaturfestival Berlin samt der Programmreihe "Reading the Currents" läuft noch bis zum 16. September. In den kommenden Tagen sitzen unter anderem die US-Amerikanerin Joann Hart mit dem Bremer Forscher Martin Zimmer auf der Bühne oder die Japanerin Yoko Tawada mit der Wissenssoziologin Anna-Katharina Hornidge.

Das komplette Programmheft finden Sie hier.

Susanne Götze