Um die Klimaziele des Pariser Klimaabkommen zu erreichen, muss sich die Weltgemeinschaft gewaltig anstrengen. Die Veränderungen, die der Energieerzeugung, der Landwirtschaft, der Mobilität, ja, dem kompletten Wirtschaftssystem bevorstehen, polarisieren. Heftige Proteste, wie die der "Gelbwesten" in Frankreich im vergangenen Jahr, können die Folge sein, wenn sozialen Auswirkungen von Klimapolitik zu wenig berücksichtigt werden. Die Lage, in der sich die Klimapolitik sieht, wirkt bisweilen aussichtslos.

"Viele Menschen misstrauen Parteien und Parlamentsbeschlüssen", sagt Prof. Hans-J. Lietzmann vom Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung an der Bergischen Universität Wuppertal. Mehr Bürgerbeteiligung könne hier Abhilfe schaffen. "Wir können nachweisen, dass in den Kommunen, in denen solche Prozesse gut gelaufen sind, die Wahlbeteiligung wieder steigt", sagt Lietzmann. Auf diese Weise lassen sich auch Menschen erreichen, die schon länger nicht mehr oder noch nie wählen waren.

In einem zweiminütigen YouTube-Film wird der irische Bürgerrat vorgestellt und zugleich Prinzipien der deliberativen Demokratie erklärt

Genau das hat Frankreich nach den "Gelbwesten"-Protesten versucht. Die angekündigten höheren Benzinpreise als Klimaschutzmaßnahme (ohne sozialen Ausgleich) im Zusammenspiel mit einer kurz zuvor vorgenommenen Abschaffung der Vermögenssteuer hatten dort viele Menschen auf die Straße getrieben. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron initiierte daraufhin eine Bürgerversammlung, die "Convention citoyenne pour le climat" (zu Deutsch „Bürgerkonvent für das Klima“). Das Ziel: konkrete Vorschläge für mehr Klimaschutz zu entwickeln, um - im Geiste der sozialen Gerechtigkeit - die Treibhausgasemissionen bis 2030 gegenüber 1990 um mindestens 40 Prozent zu senken.

"Klimaschutz funktioniert nur mit sozialem Ausgleich"

Im ganzen Land, quer durch alle sozialen Schichten, wurden 150 Personen für den Konvent angeworben – durch eine zufällige Auswahl sollte sichergestellt werden, dass der Rat repräsentativ für die französische Gesellschaft ist: die jüngste Teilnehmerin war 16 Jahre alt, die älteste 80. Zweieinhalb Tage lang wurden sie dann von Experten mit Informationen rund um den Klimawandel gebrieft, konnten Umweltministerin Elisabeth Borne wie auch Gewerkschaftsführer und Umweltaktivistinnen befragen. Dieser Part sei wesentlich für das Gelingen von Bürgerbeteiligungen, so Lietzmann: "Damit eine Beteiligung fruchtbar ist, darf sie nicht nur ein Stammtisch sein, sondern muss mit Experten gemeinsam durchgeführt werden. Menschen, die sich an der Gestaltung der Energiewende beteiligen sollen, müssen genauso von Experten informiert werden wie zum Beispiel Politiker in einem Gemeinderat oder einem Landtag, damit sie wissen, über welche Optionen sie überhaupt verfügen."

Seine Entscheidungen trifft ein Bürgerkonvent dann aber unabhängig von den Experten. "In aller Regel werden auf diese Weise Streitpunkte stark gemeinwohlorientiert diskutiert", sagt Lietzmann. Denn es gehe nicht darum, einer Seite Recht zu geben – sondern darum, den Alltagsverstand und Alltagserfahrungen zu mobilisieren, um festzustellen, wo von einer Seite Maßnahmen vielleicht zu scharf zugeschnitten wurden. Bürgerkonsultationen, so der Experte, helfen dabei, Kompromisse zu finden, die sozial legitim und akzeptabel sind. "Insbesondere bei Klimafragen ist das wichtig, weil hier ein sozialer Veränderungsprozess eingeleitet werden muss. Klimawende kann nur funktionieren, wenn sie sozial getragen wird", sagt Lietzmann.

Frankreich plant Referendum zu Bürgerrats-Vorschlägen

In insgesamt sieben Sitzungen also wurden in Frankreich bis Januar 2020 alltagsnahe Lösungen in den fünf Bereichen Transport, Wohnen, Essen, Konsum sowie Produktion und Arbeit erarbeitet. Dabei immer im Fokus: soziale Gerechtigkeit. Wegen der Coronakrise fand die dreitägige Abschlusstagung teilweise per Videokonferenz statt. Im Juni dann legte der Bürgerrat rund 150 Vorschläge vor. Unter anderem forderte das Gremium, das Tempolimit auf französischen Autobahnen von 130 auf 110 Stundenkilometer zu senken, Hausbesitzer zur Wärmedämmung zu verpflichten, den Bahnverkehr zu fördern, keine neuen Flughäfen mehr zu bauen und bestehende nicht mehr zu erweitern. Und, und, und.

Zunächst war geplant, dass der Bürgerrat seine Maßnahmen-Vorschläge direkt dem Parlament unterbreitet. Wenige Tage später, nach Kommunalwahlen, die für seine Partei enttäuschend ausgingen, sprach sich Macron dann überraschend für direkte Volksabstimmungen zum Thema aus. Über zwei Verfassungsänderungen und eine Gesetzesänderung sollen nun also Referenden stattfinden – unter anderem über den Vorschlag des  Bürgerrats, dem Artikel 1 der französischen Verfassung einen dritten Satz hinzuzufügen: "Die Republik garantiert den Erhalt der biologischen Vielfalt und der Umwelt und kämpft gegen den Klimawandel." Über alle anderen Vorschläge wird im Parlament abgestimmt.

Macron hat mit dieser neuen Form der Bürgerbeteiligung auf soziale Verwerfungen und anhaltende Vorwürfe des Elitismus reagiert. Offen ist noch, ob diese per Zufallsverfahren ausgelosten Bürgerräte nun tatsächlich als festes Element der dritten Kammer der Republik etabliert werden. Macron hatte dies angekündigt, um dem Vertrauensverlust in die bestehenden Strukturen der repräsentativen Demokratie entgegenwirken zu können.

Vorreiter Irland …

Mit diesem Versuch ist Frankreich nicht allein. Bereits 2016 hatte das irische Parlament die "Citizens’ Assembly in Ireland" ins Leben gerufen, um damit Kernthemen des politischen Diskurses in einem neuen Rahmen zu besprechen. Die 100 teilnehmenden Personen wurden möglichst repräsentativ – nach Geschlecht, Alter, Stadt-Land-Verteilung – durch Umfrageinstitute ausgewählt. Mit dem Instrument wurden bereits sehr kontroverse Themen wie das Recht auf Abtreibung oder die Gleichgeschlechtliche Ehe verhandelt. Beide Empfehlungen der Versammlungen wurden zuerst vom Parlament übernommen und dann in Referenden angenommen.

2018 wurde ein Konsultationsprozess zur Frage begonnen, wie Irland zu einem Vorreiter bei der Bekämpfung des Klimawandels werden kann. Im Vorfeld gingen mehr als 1.200 Vorschläge von Interessenvertretungen, Fachleuten, aus der Wissenschaft und von Privatpersonen insbesondere zu Irlands Energie-, Verkehrs- und Landwirtschaftssektor ein. Eines der bemerkenswerten Ergebnisse der Versammlung war schließlich, dass 80 Prozent der Mitglieder erklärten, sie seien bereit, höhere Steuern auf besonders klimaschädliche Aktivitäten zu zahlen. 89 Prozent der Mitglieder empfahlen, dass es eine Steuer auf Treibhausgasemissionen aus der Landwirtschaft geben sollte und befürworteten Belohnungen für Landwirte, die klimafreundlich anbauen.

… und Großbritannien

Im Schatten der Corona-Seuche ist kürzlich dann auch in Großbritannien eine erste Citizen Climate Assembly zu Ende gegangen. Die über 100 Versammlungsmitglieder wurden nach dem Zufallsprinzip aus 30.000 Haushalten in ganz England, Nordirland, Schottland und Wales ausgewählt. "Man muss bei der Vorbereitung sehr gut darauf achten, dass man sowohl Stadt und Land, als auch alle verschiedenen Orientierungen innerhalb eines Landes einbezieht", sagt Professor Lietzmann.

In der britischen Climate Assembly diskutieren mehr als einhundert zufällig ausgewählte Personen aus dem Vereinigten Königreich; Foto: Fabio/UK Parliament

Der britische Rat war vom Unterhaus im Juni 2019 ins Leben gerufen worden, also noch vor der Wahl des jetzigen Premierministers Boris Johnson. Der britische Journalist Stephen Buranyi zeigt sich in einem Kommentar im Guardian skeptisch, dass die aktuelle britische Regierung überhaupt daran interessiert sei, ihre bisherige Klimapolitik zu verschärfen. Buranyi weist darauf hin, dass auch die irische Versammlung zwar sehr ambitionierte Vorschläge zur Klimakrise vorgelegt hat, angefangen von hohen Investitionen in die Renaturierung von Mooren und den öffentlichen Verkehr bis hin zu einer Steuer auf Treibhausgas-Emissionen der Landwirtschaft. Die irische Regierung habe jedoch all diese Vorschläge ignoriert zugunsten einer wenig ambitionierten Politik – die der damalige Premierminister Leo Varadkar als "ehrgeizig, aber realistisch" bezeichnete.

An diesem Beispiel zeigt sich denn auch eine grundlegende Schwäche empfehlender Verfahren: Die Umsetzung ist ungewiss. Das müsse nicht zwingend negativ sein, meint Experte Lietzmann: "Wenn eine solche Assembly etwas beschließt, dann steht das als politische Meinung mit einem hohen Gewicht im Raum. Das ist meiner Erfahrung nach mindestens so viel wert wie ein institutioneller Beschluss. Kein Politiker, der noch wiedergewählt werden will, kann das völlig negieren."

Wie verbindlich dürfen Empfehlungen sein?

Der Ansatz von Bürgerversammlungen geht grundsätzlich davon aus, dass politische Führer beste Absichten hätten und lediglich entscheidungsschwach seien – einerseits aufgrund der Vielfalt und Komplexität verschiedener Lösungsansätze, andererseits aus Angst, dass die Öffentlichkeit sie für falsche Entscheidungen an der Wahlurne abstrafen könntet, schreibt Buranyi. Ist dem aber nicht so, kann eine Bürgerversammlung eine Regierung kaum von ihrem bisherigen Kurs abbringen.

Wäre es also nicht sinnvoller, von vornherein festzuschreiben, dass Vorschläge von Bürgerversammlungen in ein verbindliches Referendum münden? "Eine Verbindlichkeit mit den Beschlüssen einer Bürgerversammlung zu verknüpfen, birgt das Risiko, neue Konflikte mit den parlamentarischen und exekutiven Akteuren heraufzubeschwören und lastet zudem den Teilnehmern eine besondere Bürde auf", sagt Professor Lietzmann. Werden jedoch Bürgerversammlungen und ihre Vorschläge nicht vom Parlament gestützt, kann Bürgerbeteiligung allerdings als "vorgetäuscht" empfunden werden – was das Potenzial hat, Bürger*innen noch weiter zu frustrieren.

"Grundsätzlich halte ich die Anbindung ans Parlament schon für sehr hilfreich, im besten im Form einer Beauftragung", sagt Thorsten Sterk, einer der Campaigner der Berliner Initiative "Bürgerrat Demokratie". Sie hofft, auch in Deutschland das Instrument der Bürgerversammlung zu etablieren, um durch einen "einen Dialog auf Augenhöhe, in dem sich Bürgerschaft und Politik begegnen, den politischen Prozess zu befruchten". Sterk: "Wir haben 22 Empfehlungen zur Umsetzung von mehr Bürgerbeteiligung entwickelt und unzählige Gespräche mit Fraktionen und Abgeordneten des Bundestages geführt." Eine davon lautet: Die Regierung muss sich zu Empfehlungen der Bürgerbeteiligung verpflichtend äußern. Damit würde eine Regel guter Beteiligungspraxis auf der kommunalen Ebene auf die Bundesebene gehoben.

Bundestag beschließt ersten Bürgerrat

Einen ersten Erfolg kann die Initiative bereits verzeichnen. Der Ältestenrat des Deutschen Bundestages hat Mitte Juni einen losbasierten Bürgerrat zur Rolle Deutschlands in der Welt beschlossen. Nach dem Vorbild des "Bürgerrats Demokratie" sollen dazu 160 per Los ausgewählte Bürger*innen an drei Wochenenden noch in diesem Jahr im Austausch mit Expertinnen und Experten diskutieren und Handlungsempfehlungen erarbeiten. Diese sollen in Form eines Bürgergutachtens Anfang 2021 vorliegen. "Gerade weil die wachsende Komplexität im rasanten gesellschaftlichen Wandel die repräsentative Demokratie noch wichtiger macht, sollten wir dafür sorgen, dass sie wieder für mehr Bürger interessant wird und sie sich wirklich vertreten fühlen", sagt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU). Neben der Bearbeitung des konkreten Themas gehe es  vornehmlich darum, ein für Deutschland geeignetes Format zu entwickeln – und zu erforschen, ob ein solches neues Instrumentarium grundsätzlich zur Unterstützung der parlamentarischen Arbeit taugt.

Auch in Deutschland haben bereits erste Veranstaltungen eines "Bürgerrats Demokratie" stattgefunden, hier im September 2019 in Leipzig; Foto: Mehr Demokratie e.V.

Das Ausprobieren neuer demokratischer Verfahren liegt im Trend: In Schottland wird ähnlich dem irischen Modell gerade eine Bürgerversammlung abgehalten, um die Zukunft des Landes etwa in Bezug auf nachhaltiges Wirtschaften zu eruieren. Auch Spanien soll einen nationalen Klima-Bürgerrat bekommen, hat Umweltministerin Teresa Ribera Ende Januar angekündigt. Selbst in der Schweiz, die bereits als Musterbeispiel partizipativer Demokratie gilt, setzen sich Aktivisten für das zusätzliche Instrument Bürgerräte ein. Ihre Begründung: Die Beteiligung an Volksabstimmungen liege oft nur bei etwa 40 Prozent, die Entscheidungen würden oft durch Plakatkampagnen finanziell gut aufgestellter Lobbygruppen beeinflusst, und nur wenige Menschen würden sich wirklich im Voraus vor der Wahl informieren. Bei einem Bürgerrat aber sei diese wichtige Lernphase institutionalisiert.

Manch deutsche Politiker stehen dem Instrument zwiespältig gegenüber

Umfragen deuten darauf hin, dass in Deutschland die Bevölkerung durchaus offen wäre für deutlich striktere Klimaschutzmaßnahmen, als sie bisher von der Bundesregierung und dem Bundestag beschlossen wurden. Als Indiz dafür können die Massenproteste von #FridaysForFuture gelten, die in der Spitze mehr als eine Million Menschen bundesweit auf die Straße brachten. Auf einer Bürgerversammlung könnten praxisnahe Vorschläge zu Streitthemen wie dem CO2-Preis, einem Tempolimit, klimafreundlichere Ernährung erarbeitet werden.

Aktivisten der Bewegung Extinction Rebellion, haben auf der Online-Plattform abgeordnetenwatch.de abgefragt, was Mandatsträger von der Idee der zufällig ausgeloster Bürgerräte halten, und ob dies ein geeignetes Instrument im Bereich des Klimaschutz sein könne. Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann (SPD) versprach in seiner Antwort, er wolle sich den französischen Klima-Bürgerrat "genau ansehen". Für SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich ist es "fraglich, aber diskussionsfähig", ob ein Bürgerrat die Lösung für die mit dem Klimawandel einhergehenden Probleme ist.

In der CDU/CSU-Fraktion variiert die Tonlage stark. Für den Bundestagsabgeordneten Thorsten Frei (CDU) "wäre es einen Versuch wert, das in Deutschland bewährte Modell der repräsentativen Demokratie auf Bundesebene mit deliberativen Elementen anzureichern". CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak meint, "dass Bürgerräte die parlamentarische Demokratie ergänzen können". Aber: "Am Ende des Tages müssen die Entscheidungen natürlich in den Parlamenten getroffen werden, weil nur diese durch die Bevölkerung legitimiert sind." Die Antworten anderer Unionsabgeordneter zeugen von massiver Ablehnung. So schrieb etwa Klaus-Peter Willsch (CDU) brüsk: "Wir brauchen keine Räte, in denen selbsternannte Gutmenschen ihren Fantasien freien Lauf lassen." Das Konzept der Bürgerräte mit ihre repräsentativen Zusammensetzung und der faktenbasierten Debatten scheint er nicht verstanden zu haben.

Thorsten Sterk von "Bürgerrat Demokratie" zeigt sich trotz solcher Aussagen optimistisch, dass auch in Deutschland bald kontroverse Fragen wie Klimaschutz in Bürgerversammlungen debattiert werden. Auf kommunaler Ebene ist dies auch schon in Planung. So hat etwa Konstanz, das als erste Stadt Deutschlands den Klimanotstand ausgerufen hat, einen Bürger:innenrat angekündigt. Denn zum Beispiel beim Thema Verkehrswende "scheiden sich die Geister". Ein ideales Sujet also, um die Kluft zwischen Parlament und der Bevölkerung zu verkleinern und einen breiten Querschnitt der Bürger*innen sehr direkt mitbestimmen zu lassen.

Daniela Becker