Jan Minx leitet die Arbeitsgruppe Angewandte Nachhaltigkeitsforschung am Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) in Berlin und ist Professor für Climate Change and Public Policy am Priestley International Centre for Climate der University of Leeds. Zwischen 2011 und 2015 koordinierte er als Leiter der Technical Support Unit die Erstellung von Band 3 des Fünften Sachstandsberichts des Weltklimarats IPCC.
In Zeiten, in denen die Grenzen zwischen wissenschaftlichen Fakten zum Klimawandel, berechtigten Meinungsverschiedenheiten und Unsicherheiten des Wissens absichtlich verwischt werden – nicht zuletzt durch Staatsoberhäupter wie Donald Trump oder Recep Tayyip Erdoğan –, ist die Arbeit des Weltklimarates wichtiger denn je. Der IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) hat die Aufgabe, die schier unüberschaubare Fülle der wissenschaftlichen Einzelerkenntnisse zu sichten und einzuordnen. Er zeigt beispielsweise auf, wo diese sich ergänzen oder warum sie eventuell voneinander abweichen. Im Jahr 2021 soll der Sechste Sachstandsbericht des IPCC zur Klimaforschung (Sixth Assessment Report, kurz: AR6) erscheinen; und seine Autoren – Hunderte von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedlichsten Fachgebieten – stehen vor einer Herkulesaufgabe.
Die Menge der wissenschaftlichen Informationen nimmt exponentiell zu – ebenso wächst die Schwierigkeit, einen klaren Überblick zu behalten. Mittlerweile erscheint in einem einzigen Jahr mehr Material als früher in einer ganzen oder gar mehreren Berichtsphasen (die jeweils sechs bis sieben Jahre umfassen). Es ist praktisch unmöglich geworden, sämtliche relevanten Veröffentlichungen zum Klimawandel zu verfolgen und zu lesen. Selbst wenn das Wachstum der Informationsmenge in den kommenden drei Jahren bis 2021 nicht weiterginge, müssten für den AR6 zwischen 270.000 und 330.000 einschlägige Fachveröffentlichungen ausgewertet werden. Dies ist mehr als die gesamte vor dem Jahr 2014 verfasste wissenschaftliche Literatur zum Klimawandel. Den Stand der Forschung zusammenzufassen und zu bewerten, wird zunehmend eine Herausforderung, die man in Anlehnung an den Begriff "big data" als "big literature" bezeichnen kann.
Die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Klimawandel wächst exponentiell. Die hier gezeigten Zahlen beziehen sich auf jene Fachliteratur, die in der Web-of-Science-Datenbank verzeichnet ist; die tatsächliche Menge der relevanten Publikationen zum Klimawandel dürfte sogar noch viel größer sein; Grafik: Minx et al. (2017), aktualisiert von Max Callaghan
Den Berg der Fachliteratur zu bewältigen ist von zentraler Bedeutung, um die Glaubwürdigkeit des Weltklimarats auch künftig zu sichern. Es führt kein Weg daran vorbei, uns von Computern dabei helfen zu lassen, Informationen zu lesen und zu verarbeiten, die wir selbst nicht mehr erfassen können. Bei diesem Übergang in ein neues Zeitalter computerunterstützter Literatur-Bewertung muss der IPCC eine Führungsrolle übernehmen. Es gilt, maschinelles Lernen und Methoden zur Verarbeitung natürlicher Sprache einzusetzen, um die riesigen Mengen einschlägigen Materials zu verstehen und zusammenzufassen. Dafür müssen neue Arten von Experten eingebunden werden – etwa aus den Bereichen Szientometrie, Computerlinguistik und Datenanalyse.
"Die Synthese von Forschungsergebnissen braucht mehr Wertschätzung"
Entscheidungsträger erwarten von der Wissenschaftsgemeinde auch Erkenntnisse, die zu sinnvollen Lösungen beim Klimawandel beitragen können. Doch auf diesem Gebiet indes hat der IPCC bis dato nur langsam Fortschritte gemacht. Das Bestreben zu verstehen, welche politischen Instrumente gut und welche weniger gut funktionieren – und unter welchen Bedingungen –, steckt weiterhin in den Kinderschuhen.
Dieses Problem ist besonders akut in der Sozialforschung. Manche Stimmen behaupten, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse böten sich nun einmal nicht an für Verallgemeinerungen. Dies erscheint fragwürdig. Vielmehr mangelt es an Wertschätzung für die Wissenssynthese als eigenständiges Forschungsanliegen, das heißt der Anwendung formaler wissenschaftlicher Methoden zur Beforschung von Forschungsergebnissen. Denn nur wer die Variabilität an wissenschaftlichen Erkenntnissen versteht, kann umfassend lernen. Der Mangel an einer solchen synthetischen Beforschung der politik- und sozialwissenschaftlichen Literatur macht es dem Weltklimarat unmöglich, das über Tausende Einzelpublikationen verteilte Wissen zusammenzuführen.
Es wird nicht einfach sein, einen Kulturwandel in den Sozialwissenschaften zu bewirken – hin zu einer besseren Unterstützung der wissenschaftlichen Bewertung und des aufeinander aufbauenden Lernens über Lösungen für den Klimawandel. Zwar kann der IPCC dabei als Katalysator wirken, doch eine Veränderung wird es erfordern, synthetische Forschungsmethoden anwenden zu können. Außerdem geht es darum, kollaborative Netzwerke zu unterstützen. Nicht zuletzt müssen Forschungsförderer und Regierungen nun auch aktiv in Wissenssynthese investieren.
Sorgfältige Zusammenfassungen statt "Kakoponie von Einzelstudien"
Die gute Nachricht ist, dass es durchaus Vorbilder gibt für einen solchen Wandel. Auch die Medizin, die Bildungsforschung oder die Psychologie hatten in den vergangenen Jahrzehnten ähnliche Herausforderungen zu bewältigen. Heute ist in diesen Fachgebieten die systematische wissenschaftliche Synthese als Grundlage für Politikberatung fest etabliert.
Es ist gefährlich für eine Kultur der evidenzbasierten Politikgestaltung, wenn sich der irreführende Eindruck festsetzt, dass jede einzelne wissenschaftliche Arbeit zur Politikberatung genutzt werden kann. So kommt es zu einer Kakophonie von Expertenmeinungen und nicht zu einem Lernprozess basierend auf robusten wissenschaftlichen Einsichten. Denn es gehört zum normalen wissenschaftlichen Gang der Dinge, dass bei der Suche nach Wahrheit und der Herausbildung von gesichertem Wissen Studien auch mal zu abweichenden Ergebnissen kommen. Umso wichtiger ist das Zusammenführen von Forschungsergebnissen, die Bewertung der Verlässlichkeit einzelner Studien und der Abgleich, welche Erkenntnisse sich bestätigen oder auch nicht.
Nur wenn wir die Wissensynthese zu einem Teil der täglichen Forschungspraxis in der sozialwissenschaftlichen Klimaforschung machen und zum Goldstandard der wissenschaftsbasierten Politikberatung erheben – und dabei Techniken zur Verarbeitungen großer Datenmengen und maschinellem Lernen nutzen –, können wir dem Weltklimarat den Rücken stärken. Und wir können zugleich schlagkräftiger auf die Trumps und Erdogans dieser Welt reagieren, die sich wie Rosinenpicker aus der Forschung gern jene Einzelergebnisse heraussuchen möchten, die ihren politischen Zielen dienen.
Dieser Text ist zunächst auf Englisch erschienen im MCC Blog "Common Economics"