Ich sitze im müffelnden Uferschlamm der Modau, an der ich aufgewachsen bin. Und die ich gerade für ein Buch erkunde und ablaufe, wobei ich sie oft verloren habe. Denn die Modau, das Fallbeispiel eines deutschen Mittelgebirgs- und dann Flachlandflusses, verschwindet in Tunneln, quetscht sich hinter Mauern durch Land und Dörfer oder durchfließt viele Privatgrundstücke, die Flusswanderern wie mir versperrt bleiben. Nun aber ist es November geworden, und ich sitze endlich, am Ende der ersten Wanderung, an der Mündung der Modau in den Altrhein, die ich schon lange vom Angeln her kenne. So wie die ganze Gegend, den Fluss, den Strom und ihre Gesichter im Jahreslauf.
Die Mündung liegt am Ende eines Parkplatzes, an dem Ausflügler, Wanderer und Wohnmobilreisende an Wochenenden alle Plätze belegen und die Idylle auslöschen. Dann gehen die meisten über die Stockstädter Brücke hinein in den Auenurwald des Kühkopf-Schutzgebietes, um sich darin zu verlieren oder erst zu etwas zu werden; seltener auch, um Vögel zu beobachten, Bilder zu schießen oder bei der Strömungssimulation im Umweltbildungszentrum auf Knopfdruck zu lernen, wie der Rhein die Aue flutet. Und dass der Neckar vor Urzeiten bei Trebur unweit von Mainz in den Rhein floss, und nicht wie heute 50 Kilometer weiter südlich bei Mannheim einmündet. Wer an den Wochenenden hier am Parkplatz bei der Mündung bleibt, ist in der Minderheit. In der Woche ist diese Gruppe aber fast unter sich: gemächliche Freizeitangler, die mit Kühltaschen und anderem Gepäck sicheres, gut ausgetretenes Ufer suchen, das sie sanft an den Fluss hinab führt. Dass sie sitzen und ruhen lässt, obwohl man hier nur schlecht fängt.
Idyllische Natur nahe der Mündung der Modau in den Altrhein; Foto: Torsten Schäfer
Hier an der Mündung ist die Erde ausgetreten und die Modau nicht breiter als zwanzig Flusskilometer stromauf im Mittellauf. Ich stehe auf, steige durch eine Brennessel-Mauer, schaue ihr ins Gesicht und bin erschrocken, wie ausgezehrt sie mir heute entgegenkommt. Sie hat nach der monatelangen Trockenheit die Kleider verloren, ist nackt und fern des wilden Feuers, das sie oben im Odenwald in sich hat, wo sie auf der Neunkirchner Höhe entspringt. Dazu kommt die Modau schnurgerade aus den Stockstädter Feldern auf den Altrhein zu, begradigt von Arbeitstrupps der Nazis, um ihr Hochwasser zu bändigen. Diese Flussbausünden haben sie alle begangen, sind frei von politischer Couleur.
Der Fluss wirkt verrenkt
Die Mündungsfarben sind heute Dunkelgrau und Erdbraun; die Modau wirkt verrenkt und brackig dazu, mit Modergeruch – vor allem nach Regen und im Dunst, wenn das Hechtangeln sich hier vielleicht doch einmal lohnt. Jetzt stinkt es nur trocken. Manchmal schieben sich auch andere Duftnoten dazwischen, denn die Modau ist, bevor sie sich hier zwischen den hohen Brennessel-Ufern eher unbemerkt in den alten Rhein drückt, etliche Kilometer durch das Hessische Ried geflossen. Ein landwirtschaftliches Hochleistungszentrum, dessen Dünger und Abwässer ihre Spuren und Gerüche hinterlassen.
Es ist Apfel-, Spargel-, Erdbeer-, Weizen-, Roggen-, Mais- und Sonneblumenland, durch das die Modau muss; dabei gibt sie Wasser ab in viele kleine Kanäle und Seitenarme, immer mit dem Sinn, die Äcker und Zuchten zu bewässern. Entsprechend geschwächt kommt sie nach 44 Kilometern am Rhein an. Mit all ihrem eigentlichen Wasser und im ursprünglichem Kleid würde sie an der Mündung hier mit Schwung das Bild mitbestimmen. Würde strömen, stolzieren und ein tanzendes Flusswesen sein bei seiner Vermählung mit dem größeren Altrheinstrom, dessen dunkles Oliv trotz seines Tiefstandes zu mir herüberschimmert; zusammen mit den Lichtern der Silberweiden aus der Weichholzaue, dem dichten Vorhang, nach dem da drüben die schönste Wasserwildnis kommt.
Der Altrhein ist in der Hitze des Sommers auch tief gefallen, bekam einige Tage sogar kein Wasser mehr aus dem Hauptstrom, sodass man hinüberlaufen konnte zur Aueninsel. Doch jetzt, nach den ersten Regenfällen, kommt das Wasser langsam zurück und spiegelt die Magie dieses alten Rheinwaldes wieder, die auch die Dürre nicht wegbrennen konnte.
Die Modau in ihrem wilden Teil vor Ober-Ramstadt; Foto: Torsten Schäfer
Ein Fluss kann Mitleid nicht aufnehmen, dafür so vieles andere. Ich gebe es trotzdem hier ein, ungeplant, sicher ohne Sinn und Nutzen, und dennoch bewegt und verstört genug, um damit still abzutreten. Denn das Flusswesen, das ich lange kenne und nun bewusster als je zuvor kennengelernt habe, ist hier, am Ende seiner Reise, erschöpft. Ist vom gurgelnden, wild mäanderndem Odenwaldbach mit Kurven, Kolken, kleinen Wasserfällen und sandigen Rieselflächen, über die die Bachforellen huschen, zum industriellen Kanalstrich geworden, der unter Wassernot und Klimaleid noch schwerer daherkommt als ohnehin schon in seinem verbauten Leben, das er mit vielen anderen deutschen Flüsse teilt.
Immerhin wird die Modau hier an der Mündung von einer verwunschenen Wald- und Wasserwelt voller Leben aufgenommen, was mir als Trost erscheint. Dennoch hänge ich der Modau, die ich schon als übermütiger Zwölfjähriger mit Müllsack und Gummistiefeln saubermachte, damit der Lachs danach kommen könnte, heute sehr nach. Und beschließe auf dem Rückweg, zu Hause anzuhalten und eine der Forellen zu suchen, mit denen die Reise entlang ihrer Ufer begann. Ihr Schwänzeln unter der Brücke, ihre geschmeidige, gepunktete und fließende Ruhe, wird ein Schluss meiner Flussreise sein, wenn auch ein erzwungener. Ein Trugschluss. Denn das träge und trübe Ende liegt hier vor mir, bei den Spuren der Hunde, die hier baden, bei den Gummistiefelabdrücken, vor denen kleine Fischschwärme über dem lehmigen Grund vorbeihuschen, als ich ein letztes Mal in die Nahtstelle beider Flüsse sehe, bevor sie zu einem werden. Dann sitze ich im Auto und beginne, über den Sommer nachzudenken.
Wasser kommt näher, wenn es verschwindet
Mir wird klar, dass das Wasser näherkommt, sobald es verschwindet. Jetzt, nach Dürre und Hitze, gelangt es wie lange nicht mehr in die Nachrichten und Gespräche, an die Tische und auf die Titelseiten. Wenn das Wasser in den Flüssen und Seen schwindet, lebt es draußen auf, denken wir wieder daran, wie sehr wir davon abhängen, noch, immer schon, immer weiter. Und dass es wehtut, wenn es geht. Jetzt zeigt der Rhein seine Wunden und Narben, lässt er sich in den Kopf schauen, bis tief in den Grund, wo sein Denken sitzt, aber auch all die Plastiktüten im Schlick, die Reifen, Stuhllehnen, schlierigen Flaschen und verhedderten Schnurreste. Dort, wo gerade nur noch so wenig Wasser ist – und damit so viel Neuland: überraschende Rinnen, spontane Hügel, Sandberge, Wüstenstrecken, Kiesbetten und sandnackte Prallhänge. Flussbetten sind Kontinente.
Hitze und Trockenheit haben den Flüssen im Sommer 2018 ihr Haupthaar genommen und Landschaften freigelegt, zu denen sich im Herbst dann viele Menschen aufgemacht haben. Sie kamen, um in die bizarren Canyons zu schauen, bevor sie wieder verschwinden, waren zuerst erstaunt und irritiert, dann erschrocken und besorgt, wie all die Fernsehreportagen und Radiofeature über die Ufergänger zeigten. Viele Uferläufer hatten Umweltschmerzen. Denn nachdem sich ihr Staunen über die freigelegten Trockengebirge gelegt hatte, sahen sie nur noch einen leeren, leidenden Fluss. Jemanden, den sie sonst ganz anders kannten.
Der Schmerz der Wassermenschen
Den größten Schmerz hatten all die Wassermenschen, die uns die Trockenheit in die Erinnerung gerufen hat: besorgte Deichwarte, arbeitslose Fährmänner und Flussfischer, klagende Binnenschiffer, Angler ohne Arena, Freizeitkapitäne im Leerlauf, Camper ohne Paradies, Flussschwimmer vor wasserlosen Endlosstränden. Es gab aber auch Fabrikführer bei der BASF, die Teile der Kunststoffproduktion aussetzen mussten, weil Schiffe keine Rohstoffe mehr heranfahren konnten.
Doch Klagende gibt es in einer Heißzeit, so das Wort des Jahres 2018, noch viele mehr: vor allem wütende Bauern mit Einnahmeverlusten, Existenzangst und Notschlachtungen; Förster, die auf ihrem Holz sitzenbleiben, weil eine krabbelnde Klimafolge, der Borkenkäfer, die Notschlachtungen auch im Wald erzwingt und jetzt "Käferholz" den Mark flutet. Dazu kommen die Wissenschaftler, denen der Hitzesommer mit allen Folgen für Mensch und Natur viel Analysearbeit beschert hat – Klimafolgen für Hochschulen und Forschungsinstitute.
Ich bin schon fast an der Forellenbrücke angekommen, höre aber noch einen Radiobericht über Gemeinden, die ihre Parks und Rasen nicht mehr wässern können. Dann geht der Strudel los, und ich denke an alle: an die Dürreangst eines Gärtners im Fernsehen, an das Taktieren der Agrarministerin bei den Hilfen für die Bauern und an den öffentlichen Brief unseres Bürgermeisters mit der Bitte, überall Wasser zu sparen. Ich denke an die Kollegen im Dieburger Angelverein, die tonnenweise stinkenden Fisch aus einem Teich ohne Sauerstoff geholt haben. Und mir kommt der Schwedenurlaub in den Sinn, bei dem wir nicht mehr grillen durften, weil es so trocken war und oben im Norden der ausgedörrte Wald explodierte.
Ich frage mich, was noch alles kommt, stocke dann aber. Denn die Klimaveränderungen und ihre Folgen kommen nicht mehr auf uns zu. Wir sind bereits mittendrin. Wir haben die Klimafolgen zwar durch sehr viele Studien und Berichte erkannt und auch in Bilder gefasst. Doch noch nicht vor Ort, in der Landschaft, gefühlt, erlaufen, gerochen oder als Sorge und Leid gehört und verstanden durch andere Menschen und ihre Geschichten. Doch jetzt ist das so.
Ein Film, der nun Wirklichkeit ist
Jetzt erzählen die Flüsse selbst die neue Geschichte, wehen die stinkenden, umgekippten Teiche sie herüber, schweigen uns die trockenen Quellen im Stadtwald mit der einen Botschaft an – obwohl schon 2012 die Landkreisverwaltung ein Ingenieurbüro mit dem Forschungsprojekt Kladadi (Klimawandelanpassung im Landkreis Darmstadt-Dieburg) beauftragte, das für jede der 23 Kommunen einen Einseiter zu den Klimagefahren ausarbeitete. Auf der Rückseite stand, was zu tun ist - genauer und lokaler geht es nicht: In meiner Wassergemeinde Mühltal, in der die Modau und ihre Nebenbäche einst 32 Mühlen antrieben, sind nach Unwettern die Kanäle besonders schnell voll und die Keller zugelaufen, weil die Kanalsysteme alt und zu eng geworden sind. Quellen liegen besonders nahe an der Oberfläche, weshalb die Umweltingenieure vor "Trübung und mögliche Qualitätseinschränkungen des Trinkwassers" warnten – ebenso wie davor, dass in Trockenperioden "die Quellschüttungen nachlassen oder versiegen". Als weitere mögliche Folgen nannten sie "Ernteausfälle, Waldbrandgefahr und Bewässerungsbedarf".
Die Prognosen lesen sich heute wie ein Drehbuch für einen Dokumentarfilm, in dem wir alle plötzlich mitspielen. Denn die erst acht Jahre alten Warnungen sind Wirklichkeit geworden, spätestens mit diesem Sommer, in Mühltal und anderswo. An der Modau, am Rhein, überall: Flüsse leiden, Landschaften verändern sich. Und die Deutschen begreifen und fühlen zum ersten Mal, was das alles bedeuten kann.
Torsten Schäfer, 40, ist Professor für Journalismus an der Hochschule Darmstadt. Zudem arbeitet er seit vielen Jahren als Umwelt- und Reisejournalist, unter anderem für GEO, Süddeutsche Zeitung und FAZ.
Parallel zu diesem Text veröffentlichen wir einen Gastbeitrag, in dem er die Potenziale des "nature writing" für die Klimakommunikation erörtert.