Torsten Schäfer, 40, ist Professor für Journalismus an der Hochschule Darmstadt. Er hat Journalistik in Dortmund studiert und in Aachen in Politikwissenschaften promoviert. Seit vielen Jahren arbeitet er als Umwelt- und Reisejournalist, unter anderem für GEO, Süddeutsche Zeitung und FAZ, und leitet das Online-Portal gruener-journalismus.de.
Begleitend zu diesem Gastbeitrag veröffentlichen wir ein Stück "nature writing" aus seiner Feder - den ganz persönlichen Bericht von einer herbstlichen Reise zum Fluss Modau in Hessen

Natursehnsucht ist ausgebrochen. Sie ist ungeordnet, oft rein symbolisch oder auch nur untergründig festzustellen – zugleich aber auch sehr explizit in ihrem Ausdruck oder der Werbung für das Wilde, Unberührte, Natürliche. Dieses Sehnen ist an vielen Stellen sichtbar: bei Reiseveranstaltern mit Touren in die letzten Wildnisgebiete der Erde oder in der Textilindustrie, die schon länger Städter als rucksacktragende, urbane Entdecker in Outdoor-Kleidung in Häuserschluchten herumlaufen lässt. Sehnsucht nach Natur hieß auch ein Sammelband, den Heidelberger Wissenschaftler schon 2012 vorgelegt haben, um einen Trend zu erkunden, der nicht nur wirtschaftlich zu erkennen ist. Es ist noch viel mehr die Gesellschaft selbst, die wieder hinaus und etwas finden will - auch sich selbst. Ob Wandern oder Waldbaden, Imkern oder Waldkindergärten, städtisches Gärtnern oder solidarische Landwirtschaft, Kräuterwanderungen oder neuerdings das uralte Hobby Jagen – überall sprießen Angebote, Gruppen und Initiativen aus dem Boden, die Natur als neuen Erfahrungsraum in den Vordergrund stellen. Und die im Hintergrund nicht selten die Große Transformation und Klimaschutz im Sinn haben.  

All das hat auch publizistische Konsequenzen, etwa den Überraschungserfolg der Landzeitschriften, der nun schon 15 Jahre andauert, die Produktion immer neuer Naturdokumentationen oder den Erfolg von Überlebens- und Wildnis-Serien im Fernsehen, der flankiert wird von Printmagazinen wie GEO Walden, die sich überraschend gut am Markt halten. Vor allem aber der Büchermarkt ist voll von Umwelt- und Naturtiteln. Das angloamerikanische nature writing boomt mit seinen Autoren genauso wie ähnliche deutsche Titel, etwa vom schreibenden Förster Peter Wohlleben, der die Bestsellerlisten mit Bäumen bepflanzt hat. Doch es geht in den Regalen auch um Bienen, Fische und viele andere Motive und Protagonisten aus der natürlichen Welt. Dazu kommen Sachbücher über alternatives Wirtschaften, den Klimawandel und die geschundene Erde an sich - übergeordnete Perspektiven als Kontext für die konkreten Naturbücher.

"Nature writing muss Megathemen wie den Klimawandel als Kontext hinter den lebendigen Beschreibungen und Geschichten aufbauen - sonst riskiert er, in Schönschreiberei zu verfallen, die den realen Bedrohungen nicht gerecht wird"

Tatsächlich bietet das Literaturgenre nature writing ganz eigene Möglichkeiten, Natur präzise, empathisch und subjektiv zu beschreiben - und sie so auf neue Weise erfahrbar zu machen. Hier vermischen sich umwelt- und wissenschaftsjournalistische Beschreibungen mit essayistischer Reflexion und poetischen Gedanken zu einer Stilform, die vor allem in den USA und Großbritannien schon länge bekannt ist. Für sie stehen Namen wie John Muir, Henry David Thoreau, Ralph Waldo Emerson und Gary Snyder, jedoch auch die Wissenschaftsjournalistin Rachel Carson und schreibende Forscher wie Fawley Mowat.

Durch einen neuen gesellschaftlichen Naturdrang feiert nature writing seit einigen Jahren in Großbritannien große Erfolge - auf dem Buchmarkt und in Medien. In Deutschland wird das Genre vor allem in der Kultur- und Literaturwissenschaft diskutiert. Doch aktuell dringt nature writing eben auch in die Massenmedien, Buchverlage sowie Fachdiskurse vor – die Chancen, die das Genre für neue Arten der Natur- und Umweltvermittlung bietet, sind vermehrt von Interesse. Denn letztlich geht es vielen Autoren um eine Wiedervereinigung des Menschen mit der Natur und ein Sichbegreifen als Natur selbst – Motivationen, die der Zeitgeist als Gegenreaktionen zu Entwicklungsmustern wie Ökonomisierung, Verdinglichung, Beschleunigung und Technisierung gerade hervorbringt.

Magazine wie der GEO-Ableger Walden bringen das Sehnen nach Natur und Ursprünglichkeit auf (Hochglanz)Papier

Für den Journalismus liegen im nature writing besondere Chancen – etwa, weil viele Journalisten, Forscher und Dozenten zunehmend danach fragen, welche Narrative und Vermittlungsformen die oft klassische, sperrige Klima- und Umweltberichterstattung attraktiver, verständlicher und wirksamer machen können. Und weil es im Lichte der Natursehnsucht ganz neue Zielgruppen ansprechen kann, die medienökonomisch vielversprechend sind. Doch auch für ein größeres Naturbewusstsein ist das Genre eine Chance. Denn nature writing kann eine andere, lustvolle Nachhaltigkeitsperspektive schaffen, setzt es doch bei dem an, was Menschen intuitiv immer anzieht: die belebte Natur, Tiere, Pflanzen, Wasser und Landschaften. Dennoch muss die Risikoperspektive in allen Formen der Natur- und Umweltvermittlung stark bleiben. Denn die planetaren Grenzen sind teils schon überschritten, und der Einfluss des menschlichen Wirtschaftens auf die Erde ist bereits so groß, dass die Forschung mit dem Anthropozän den Anbruch eines neuen Erdzeitalters debattiert. Diesem Rahmen muss auch ein journalistischer Ansatz des nature writing Rechnung tragen: Er muss Megathemen wie den Klimawandel als Kontext hinten den lebendigen Beschreibungen und Geschichten aufbauen, da er andernfalls riskiert, in kleinteilige Schönschreiberei zu verfallen, die den realen Bedrohungen nicht gerecht wird.

Vieles weist darauf hin, dass großer Bedarf für eine neue Art der Umwelt- und Naturdarstellung und eine neue, experimente Haltung in der Zunft besteht. Der Journalismus schaut schon hinüber – etwa in die Literatur, deren Formen er immer öfter übernimmt, wie Tobias Eberwein 2013 in seiner Dissertation herausgefunden hat. Literarischer Journalismus, so seine Schlussfolgerung, macht traditionelle Medien krisenfester – gerade im Wochenrhythmus, der mehr Zeit für den Konsum der oft längeren Stücke lässt. Zudem zeigt das Publikum mit seinem neuen Naturdrang und dem Wunsch nach Entschleunigung selbst den journalistischen Bedarf an, sich mit neuen Vermittlungsformen wie nature writing zu beschäftigen.

"Was erzählt ein Stein, wenn ich ihm länger begegne? Wie stark tut die Trockenheit den Wäldern weh, die durch die Erwärmung und extremen Wetterlagen immer häufiger zu leiden haben? Solche Fragen stellen sich die Autoren des nature writing"

Aus mehreren Gründen heraus sollten sich Medien also gezielt mit nature writing beschäftigen. Dazu ruft auch der Philosoph und Journalist Andreas Weber immer wieder auf, der nature writing als Genre selbst testet, lehrt und untersucht. "Es geht für mich darum, Formen von Verbundenheit zu erkunden, die dann auch ganz andere Genres zulassen würden", sagt Weber im Interview. Nature writing befindet sich für ihn "zwischen Journalismus, Essay und Philosophie; es geht hier auch darum, über die Natur herauszuschreiben. Denn es ist persönlich, anspruchsvoll, auch spirituell oder waghalsig – aber eben keine klassische Berichterstattung". Weber beklagt aber, dass Redaktionen noch nicht offen seien für das subjektive, emotionale und auch poetische Genre. Dabei könnte es ganz anders sein, sagt er: "Ein Beispiel ist Helen Mac Donalds Buch H wie Habicht. Ein Buch über eine Freundschaft mit einem Habicht, geschrieben von einer Frau, deren Vater gestorben ist. Sehr sentimental, ziemlich viel Tier - aber das verkaufte sich auch in Deutschland super." Jedenfalls biete das Genre "eine Erzählform, die viele Menschen ergreift und mitreißt, die auch irgendwie Sinn macht. Das gibt es im Journalismus bisher nicht."

Den Trend auf dem Buchmarkt setzten zuerst vor allem englischen Autoren wie Robert Macfarlane, Roger Deakin oder Helen MacDonald. Macfarlanes Werke Karte der Wildnis (2007 in Englisch/2015 in Deutsch) oder Alte Wege (2013/2015) zählen schon jetzt zu modernen Klassikern des Genres. Sein Buch Die verlorenen Wörter (2017/2018) über Begriffe, die aus dem Englischen verschwinden oder aus Wörterbüchern bewusst gestrichen wurden, ist heute in vielen britischen Schulen Lehrmaterial. Roger Deakins Logbuch eines Schwimmers (1999/2015) ist für eine ganze Gruppe von Schriftstellern, die sich Gewässern widmen, zum Vorbild geworden. Sie all stehen in der Tradition der Großwerke des Fachs wie etwa Silent Spring der US-Wissenschaftsjournalistin Rachel Carson von 1962, das ein modernes Beispiel für die wissenschaftsjournalistische Spielart des Genres ist, oder Walden (1854) des US-Philosophen Henry David Thoreau, der als Mitbegründer der literarischen Naturschreiberei überhaupt gilt.

Das geheime Leben der Bäume des Försters Peter Wohlleben wurde 2015 zum Bestseller - und zog zahlreiche ähnliche Bücher nach sich

In der dem Journalismus nahen Tradition des "non-fiction" bewegen sich einige deutsche Journalisten, die teils in der Reihe "Naturkunden" beim Verlag Matthes&Seitz veröffentlichen. Da wäre der Welt-Journalist Eckhard Fuhr mit seinem Buch Schafe (2017) oder der FAZ-Reporter Cord Riechelmann mit dem Krähen (2013). Auch andere Journalisten schreiben überregional in großen Medien schon lange über Tiere und Natur und machen so mit ihren Reportagen vor, wohin es nun in der gesellschaftlichen Natursehnsucht auch publizistisch noch stärker gehen könnte. Dazu zählen Kollegen wie Claus-Peter Lieckfeld (frei), Anke Sparmann, Katja Trippel und Johanna Romberg (alle drei GEO), die als eine der treibenden Kräfte hinter der "vogeljournalistischen" Rubrik "Flugbegleiter" im Online-Magazin Riffreporter sogar eines der wenigen naturjournalistischen Projekte vorantreibt; jüngst kam eines zu Flüssen dazu. Lesenswert, wenn auch deutlich poetischer und damit vermeintlich unjournalistischer, ist das Werk Minima Animalia. Ein Stundenbuch der Natur (2012) von Andreas Weber über seine alltäglichen Naturbeobachtungen zu Hause. Viel häufiger sind aber deutsche Naturautoren, die keine Journalisten sind. Die Spannbreite hier ist weit und reicht von melancholischer, hochpoetischer Landschaftsmalerei wie bei Bergtundra – Streifzüge durch die Einsamkeit (2007) von Godela Unseld bis hin zu den erfolgreichen Werken von Peter Wohlleben ( zum Beispiel Das geheime Leben der Bäume, 2015), den mache eher allerdings dem Sachbuchgenre zuordnen.

Mehr Literatur, mehr Natur, mehr Subjektivität und Sinnlichkeit – nature writing steht für diese Forderungen an den Journalismus: Was erzählt ein Stein, wenn ich ihm länger begegne? Welches Schauspiel vollführen Bussarde, wenn ich mich mit ihnen aufschwinge? Wie stark tut die Trockenheit den Wäldern weh, die durch die Erwärmung und extremen Wetterlagen immer häufiger zu leiden haben? Solche Fragen stellen sich die Autoren des Genres, das manche Kritiker als zu weitgefasst ansehen mit einer Formvielfalt, die von Sachbüchern bis hin zu Gedichten reicht. Einzig das gemeinsame Rahmenthema, die Natur, tauge als Klammer. Aber genau hier liegt das Wesensmerkmal des nature writing, wenn man im Juni 2018 den Diskussionen auf der bislang größten Konferenz dazu im Literaturhaus München folgte: Die Landschaft selbst ist Akteur, steht im Zentrum der Beschreibungen, Erzählungen und Fiktionen. Sie ist nicht nur reine Kulisse für die Handlung und die Protagonisten. Hier wird auch der Unterschied zu reinen Reiseerzählungen deutlich, die stärker die eigenen Erfahrungen, die Handlung und die getroffenen Menschen in den Vordergrund stellen als seitenlang die Landschaft, deren Geschichte, die Wechselbeziehungen in Ökosystemen oder den Zustand einer Tierpopulation zu beschreiben.

"Nature writing ist emotionaler und tiefgehender als der gewöhnliche Journalismus. Es setzt bei menschlichen Grundbedürfnissen an und hält auch deshalb viele publizistische Erfolgspotenziale bereit"

Dieser dezidierte Naturbezug, braucht Mut: Journalisten, die sich diesem Genre widmen wollen, müssen ihre Vorgesetzten davon überzeugen, dass es Ressourcen dafür braucht, um einen Naturreporter für längere Zeit in die Landschaft zu entlassen; gerade die poetischere Sprache und das subjektive, miterlebende Eintauchen in Wälder, Felder oder Gewässer benötigen Zeit. Spannend wird das Genre insbesondere für den Lokaljournalismus, wo sich Serien und Sonderseiten anbieten, bestenfalls verknüpft mit multimedialen Specials zur Landschaft und ihren Menschen, die im Printstück behandelt werden. Als Formen sind etwa Rundgänge, Wanderungen, stille Schreibmeditationen, konzentrierte Mikrobetrachtungen oder assoziative Sprachpanoramen auf Landschaften denkbar.

Ganz wichtig ist dann aber auch der Kontext im Sinne der Relevanz, der aus einer reinen Beschreibung guten Journalismus macht: Klimawandel als geophysikalischer, weltumspannender Vorgang und Nachhaltigkeit als normative Gestaltungantwort darauf sollten den Rahmen bilden, in dem die Naturstücke entstehen und an denen sie textlich angebunden sind, ob eher lose oder stärker sichtbar. Denn sonst führen Medien das Publikum mitunter nur in einen schönen Vorgarten, der verzückt, betört und auch beruhigt; im Hinterhof liegen aber leider die großen, schweren Pakete, deren Abtransport etwas länger dauern dürfte. Genau zwischen beiden Sphären, dem lebendigen Vordergrund und faktischeren und weniger anschaulichen Feldern wie Klimaschutz und Nachhaltigkeit könnte nature writing eine neue Brücke sein, die Journalisten bauen können.

Ohne eine starke erzählerische Note dürften die Experimente im Journalismus zudem kaum gelingen. Denn was das Publikum interessiert, sind andere Menschen und ihre Geschichten, die oft auch draußen liegen, aber eben nicht auf der Straße. Sondern im Wald, am Seeufer, an der Küste, hinter der Wiese. So werden dann alle Gruppen, die dort häufig sind, zu wichtigen Quellen, um die Landschaftsbeschreibungen und subjektiven Erlebnisse der Reporter mit Geschichten und Wissen anzureichern: Bauern, Förster, Fischer, Wissenschaftler und Gärtner ebenso wie Schwimmer, Taucher, Mountainbiker, Pilzsucher, Hundebesitzer, Wanderer, Naturschützer, Geocacher, Lokalhistoriker oder Survival-Fans.

Die Natur ist voll von solchen Landschaftsmenschen. Und damit ebenso voller Geschichten, historischer Geheimnisse und ästhetischer Überraschungen, wie die schlichte Detailreise durch den Mikrokosmos eines Stückes sogenannten Totholzes samt all seiner Lebewesen beweist. Viele dieser versteckten Geschichten und optischen Schätze haben Journalisten noch nicht miterlebt, gefühlt, im Detail beobachtet. Vielleicht klassisch distanziert beschrieben und auch kommentiert – was aber eine Botschaft der Verbundenheit mit der Natur weniger gut zulässt. Nature writing ist emotionaler und tiefgehender. Es setzt bei menschlichen Grundbedürfnissen an und hält auch deshalb viele publizistische Erfolgspotenziale bereit.

 

Zum Weiterlesen

Praktische Anleitungen (in Englisch)