Dr. Nils Meyer-Ohlendorf leitet das International and European Governance Program des Berliner Think-Tanks 'Ecologic Institut'. Er ist zudem Mitbegründer und Gesellschafter von Democracy Reporting International. Schwerpunkte seiner Arbeit sind unter anderem EU-Klimapolitik, Demokratie und Governance, also Standards etwa in der Regierungs- oder Unternehmenspraxis

 

 

Herr Dr. Meyer-Ohlendorf, im Juli 2023 ist eine neue Studie zur Polarisierung in Deutschland und Europa erschienen. Was ist Ihnen an den Ergebnissen besonders aufgefallen?

Im Vergleich der einzelnen Länder hat mich überrascht, dass Frankreich beim Anteil stark polarisierter Personen relativ weit hinten liegt. Ich hätte vermutet, dass die Polarisierung dort stärker ausgeprägt ist. Wenn man die Ergebnisse genauer anschaut, sieht man jedoch, dass die Unterschiede zwischen den Ländern gar nicht so groß sind.

Überraschend finde ich auch, dass der Klimawandel bei den polarisierenden Themen so weit vorn ist – und sozio-ökonomische Fragen am wenigsten polarisiert sind.

Ein gewisses Maß an Polarisierung gehört zur Demokratie dazu, eine zu starke Polarisierung hingegen wird als Gefahr für die Demokratie gesehen. Wie lässt sich die Grenze ziehen, ab wann ist eine Gesellschaft gespalten?

Eine klare Linie gibt es da nicht, die Grenze ist verschwommen. Ein Hinweis für eine schädliche Polarisierung ist, wenn Argumente und Positionen per se abgelehnt werden, allein deshalb, weil sie von der Gegenseite kommen. Dann steht nicht mehr der Inhalt im Mittelpunkt, sondern der Absender. Das kann im Extremfall dazu führen, dass politische Gegner zu Feinden werden.

Eine solche Art der Polarisierung ist schädlich, weil eine Sachdebatte nicht mehr möglich ist.
Hinweise darauf findet man zum Beispiel, indem man die öffentliche Debatte analysiert: Wie gehen verschiedene Akteure mit Argumenten der Gegenseite um? Wird über Inhalte diskutiert, oder gibt es Positionen, die pauschal abgelehnt werden? Ein problematischer Aspekt in dem Bereich ist der Populismus-Vorwurf, denn er diffamiert, spaltet und wischt Argumente vom Tisch. Damit wird gerechtfertigt, dass keine inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet – nach dem Motto: „Das ist populistisch, damit müssen wir uns gar nicht erst auseinandersetzen.“

Die neue MIDEM-Studie zu Polarisierung hat nun neben den Einstellungen der Bevölkerung zu verschiedenen Sachthemen auch die gegenseitige Entfremdung gemessen. Lassen sich daraus neue Erkenntnisse über die Spaltung der deutschen Gesellschaft ziehen?

Die Studie setzt an einem Punkt an, der bisher zu wenig herausgearbeitet wurde: Wie wird Polarisierung wahrgenommen – und welche Polarisierung gibt es tatsächlich? Das Spannende an der Studie ist auch, dass sie Emotionen eine Bedeutung einräumt. Politik ist keine reine Sachdebatte, die Vorstellung vom „rein rationalen Argument“ ist theoretisch. Eine politische Debatte ist immer mit Emotionen verbunden. Das ist auch gut so, denn Emotionen und Engagement gehen Hand in Hand.

 

"Polarisierung ist nach dieser Studie gerade kein Problem von vermeintlich ungebildeten verbohrten Menschen – vielleicht sind vermeintlich offene Menschen in Wahrheit polarisierter als angenommen"

 

Bemerkenswert finde ich, dass nach der Studie besonders die ältere, gut gebildete, städtische Bevölkerung stärker affektiv polarisiert ist. Diese Erkenntnisse sollte man stärker thematisieren. Polarisierung ist nach dieser Studie gerade kein Problem von vermeintlich ungebildeten verbohrten Menschen; vermeintlich offene Menschen sind vielleicht weniger offen und polarisierter als angenommen.

Der Klimawandel ist eines der Themen, das die stärkste "affektive Polarisierung" aufweist. Die Studie deutet an, dass man darin eine Verschiebung von einem Positions- zu einem Identitätskonflikt sehen kann. Wie steht es um die Gefahr, dass es in der Klimadebatte in Deutschland nicht mehr darum geht, wie man das Klima am besten schützt, sondern ob man irgendwie „dafür“ oder „dagegen“ ist?

Die Gefahr besteht natürlich immer, aber sie ist in Deutschland nicht so groß wie in anderen Ländern. Mit dem Föderalismus, dem Wahlsystem und dem Zwang, Koalitionen zu bilden haben wir ein politisches System, das historisch gesehen gut vor Polarisierung geschützt hat. Es gab in der Bundesrepublik Zeiten, in denen die Gesellschaft stärker polarisiert war als heute, und dennoch nicht zerbrochen ist. Unser politisches System ist darauf ausgelegt, dass man zusammenkommen muss. Es belohnt Kompromissbereitschaft. Wir haben immer Koalitionsregierungen, aktuell in Bund und Ländern in 13 unterschiedlichen Kombinationen. Mit Ausnahme der AfD bilden Parteien Koalitionen mit fast allen anderen Parteien. Das deutet nicht auf Identitätskonflikte hin.

Allerdings ist nichts ewig. Die Klimakrise verlangt enorme Anstrengungen. In sehr kurzer Zeit müssen Treibhausgasemissionen drastisch gesenkt werden. Doch solche Reduktionen sind politisch umstritten, das hat man ja zuletzt bei der Diskussion um das Heizungsgesetz gesehen. Die Klimadebatte kann also zu einer sehr polarisierten Debatte werden.

Trotz der hohen affektiven Polarisierung beim Thema Klimawandel zeigt die Studie aber auch, dass das Thema von den Befragten nicht als große Gefahr für eine Spaltung der Gesellschaft angesehen wird. Ist das ein Hoffnungsschimmer?

Das fand ich auch interessant.  Wenn Spaltungswahrnehmung tatsächlich geringer ist als die tatsächliche Spaltung, dann ist das eine gute Nachricht. Andererseits gibt es schon die Gefahr, dass das Thema Klimaschutz polarisiert wird. Ein Hinweis dafür sind die Aktionen der Letzten Generation und die öffentliche Debatte darüber. Hier zeigt sich, dass verschiedene Akteure die Letzte Generation nutzen, um die Klimabewegung insgesamt anzugehen.

Umfrage-Ergebnisse der NGO More in Common vom Mai 2023 zeigen, dass die Unterstützung für die Klimabewegung in allen Teilen der Gesellschaft drastisch abgenommen hat. Sie hat sich seit 2021 gar halbiert. Eine breite Basis für den Klimaschutz zu finden erscheint also schwieriger. Ist der Klimaschutz in Deutschland in Gefahr?

Ich sehe keinen Grund dazu, nun in Sack und Asche zu gehen. Man kann zwar den Eindruck bekommen, der Konsens zu Klimaschutz bröckelt. Aber man muss sich auch fragen, ob es jemals einen solchen Konsens gab. 2019 war ein besonderes Jahr, in dem durch Fridays for Future und die Europawahl viel Unterstützung für Klimathemen generiert wurde. Es gab die Hoffnung, dass Klimaschutz zu einem großen, einenden Thema wird. Diese Hoffnung hat durch die aktuellen Umfrage-Ergebnisse einen Knacks bekommen. Die Ergebnisse von More in Common zeigen auch, dass die Protestaktionen der Letzten Generation auf viel Ablehnung stoßen.

 

"Einige Begriffe der Klimabewegung sehe ich als problematisch und potenziell polarisierend an – zum Beispiel Begriffe wie 'Klimaleugner' oder 'große Transformation'“

 

Aber man sollte sich klar machen, dass Unterstützung kein linearer Pfad nach oben ist. Konsens muss immer neu verhandelt und erneuert werden. Jetzt ist es rauer, es gibt Gegenwind – und das ist anstrengend für Klimaschützer. Es ist auch der Moment, argumentativ in die Offensive zu kommen und zu hinterfragen: Sind unsere Argumente gut, ist unsere Argumentation richtig? 

Aus den Ergebnissen der MIDEM-Studie könnte man schließen, dass es vor allem die gut gebildeten, progressiven Klimaschützer sind, die zu einer Polarisierung des Themas beitragen. Was sollte diese Gruppe in Bezug auf die Klimadebatte beherzigen?

Der Schlüssel ist die offene Debatte mit allen Akteuren, wirklich allen. Und zwar eine Debatte, die man nicht nur führt, um zu überzeugen, sondern auch wegen der Debatte selbst. Um zu zeigen, dass man bereit ist, sich auszutauschen und die andere Seite ernstnimmt.  

Da ist die Klimabewegung nicht schlecht, aber an manchen Stellen könnte man noch nachbessern. Einige Begriffe der Klimabewegung sehe ich als problematisch und potenziell polarisierend an. Zum Beispiel der Populismus-Vorwurf, mit dem eine Debatte vom Tisch gefegt wird. Auch Begriffe wie „Klimaleugner“ oder „große Transformation“ sind potenziell polarisierend. Denn es ist ja nicht so wie bei Kafka, dass wir eines morgens als Käfer aufwachen und alles anders ist. Natürlich muss sich viel ändern, aber einige grundlegende Dinge wie unser politisches System müssen nicht geändert werden.

Was braucht die Klimadebatte Ihrer Meinung nach, um eine breite gesellschaftliche Basis zu finden?

Dafür sollte die Debatte anschaulicher und alltäglicher werden. Sie ist oft zu abstrakt. Die Fragen müssen plastischer und anschaulicher werden: Wie sollen unser Leben und der Alltag in 10, 20, 30 Jahren aussehen? Wie sieht dann beispielsweise mein Badesee nebenan aus, wie werden die Sommer sein, wie sieht es dann an der Nord- oder Ostseeküste aus? Wie bekommt ein Unternehmen wie BASF in Zukunft seine Rohstoffe, wenn diese zum großen Teil über den Rhein kommen und dieser bei Niedrigwasser und Trockenheit oft nicht mehr schiffbar ist? Woher kommt unser Essen? Was machen die Menschen, die ihr Land wegen der Klimakrise verlassen müssen? Sind sie bei uns willkommen?

Wenn man Veränderungen im Alltag der Menschen anspricht, wird das Problem verständlich. Und es wird deutlich, dass unser Wohlstand und Lebensstandard im Kontext der Klimakrise nicht selbstverständlich sind. Wir müssen viel ändern, damit sich wenig ändert.

Das Interview führte Melanie Hagenau