Fast alles, was Elisabeth Joris heute ist, wurde sie in Zürich: erst Feministin und Umweltschützerin, dann Lehrerin, Mutter, renommierte Historikerin, Rentnerin, Großmutter. Dass sie seit vergangenem Herbst Klägerin gegen die Eidgenössische Regierung ist, hat aber auch mit ihrer ursprünglichen Heimat zu tun, dem Alpenkanton Wallis im Süden der Schweiz. "Durch das Schmelzen der Gletscher seit meiner Jugend wird der Klimawandel dort augenfällig", erzählt die 71-Jährige. Die Klage richtet sich gegen die Hauptursache des Gletscherschwunds: zu wenig Klimaschutz.
Elisabeth Joris auf der Gründungsversammlung des Vereins; Quelle: Flurin Bertschinger/KlimaSeniorinnen
Genau genommen ist es nicht Joris persönlich, die die Schweiz vor Gericht bringen will. Es sind die Klimaseniorinnen, ein von ihr mitgegründeter Verein. Nach Ansicht der Senior-Aktivistinnen unternimmt die Regierung nicht genug, um ihre selbst gesteckten Klimaziele bis 2020 und 2030 zu erreichen. Zudem sei der Vorsatz für das laufende Jahrzehnt viel zu wenig ambitioniert. Die Schweiz will bis 2020 mindestens 20 Prozent ihrer Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 einsparen. Zum Vergleich: Dänemark will seine Emissionen im gleichen Zeitraum um 40 Prozent reduzieren. Großbritannien hat sich vorgenommen, bis 2022 mindestens 35 Prozent zu schaffen. Deutschland hatte ebenfalls eine 40-prozentige Reduktion angekündigt, wird dieses Ziel aber voraussichtlich verfehlen.
Zum Verein gehören viele bekannte Gesichter, beispielsweise die ehemaligen Nationalrätinnen Anne Mahrer von den Schweizer Grünen und Christiane Brunner von der Sozialdemokratischen Partei. "Einige Frauen, die jetzt im Verein sind oder ihn unterstützen, kenne ich schon lange", erzählt Joris. "Wir wollten uns zusammensetzen und tätig werden." Mittlerweile hat der Verein den erweiterten Freundeskreis gesprengt – inzwischen zählt er mehr als 500 Mitgliedern. Doch sie alle sind Seniorinnen.
Weil ältere Frauen besonders unter Hitze leiden, haben sie Klagebefugnis
Dass Männer und jüngere Frauen nicht beitreten dürfen, hat einen rechtlichen Hintergrund. "Es kann nicht 'jedermann' ein Verfahren führen: In der Schweiz gibt es keine Popularbeschwerde", erklärt Ursula Brunner, die Anwältin des Vereins. Gegen ein Gesetz klagen darf nur, wer nachweisen kann, dass er stärker davon betroffen ist als die Allgemeinheit – zunächst dachten die Klimaschützerinnen, dies sei eine Hürde. Dann aber lasen sie einen Bericht, demzufolge die mit dem Klimawandel häufiger und stärker werdenden Hitzeperioden besonders für ältere Frauen ein Gesundheitsrisiko sind.
Damit stand der Plan: Die Klage wegen zu wenig Klimaschutz würde man damit begründen, dass zugleich auch das Recht auf Leben und Gesundheit der Klägerinnen nicht ausreichend geschützt werde. Einige Frauen haben zusätzlich zum Verein auch noch persönlich geklagt. Die Kosten des Verfahrens deckt der Verein durch Spenden, aber auch von der Umweltorganisation Greenpeace kommt finanzielle Unterstützung.
Protestaktion im Januar 2017 am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos; Quelle: Miriam Künzli/KlimaSeniorinnen
Momentan befasst sich noch kein Gericht mit der Klage. Sie liegt seit dem vergangenen Herbst vorschriftsgemäß erst einmal bei den Bundesämtern für Umwelt und Gesundheit, damit diese die Chance haben, von allein zu reagieren. Erst danach kann sich der Verein durch die Schweizer Judikative prozessieren – und bei fehlendem Erfolg will er vielleicht sogar vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.
"Es geht darum, dass die Verantwortung der Schweiz klar wird"
"Ich glaube nicht, dass die Behörden oder die Minister viel ändern", sagt Elisabeth Joris nüchtern. Aber ein juristischer Erfolg ist auch nicht ihr alleiniges Ziel. Die Klage dient außerdem als Mittel, mit dem die Klimaseniorinnen eine Botschaft in der Öffentlichkeit verbreiten wollen: Die Schweiz habe pro Kopf einen hohen Treibhausgasausstoß, wolle aber ihren Klimaschutzverpflichtungen am liebsten durch Zahlungen an Entwicklungsländer abgelten statt selbst einen Systemwechsel anzuschieben, kritisiert die Feministin. "Es geht uns darum, dass klargestellt wird, dass auch die Schweiz Verantwortung hat."
Dass die kommunikative Strategie aufgehen könnte, meint der Psychologen Daniel Gilbert von der US-amerikanischen Harvard University. Viele Menschen würden den Ausstoß von Treibhausgasen nicht moralisch beurteilen, so seine Analyse – obwohl dessen katastrophalen Folgen im Prinzip bekannt sind. Eine Klage könnte quasi einen Schalter im Kopf umlegen, denn plötzlich geht es um gut oder böse, wie bei anderen Gerichtsverfahren auch. In den vergangenen Jahren haben weltweit Klima-Campaigner den Weg von Klagen eingeschlagen, in Deutschland zum Beispiel zog ein peruanischer Bergbauer gegen den Braunkohle-Konzern RWE vor Gericht.
Den Klimaseniorinnen berufen sich allerdings nicht nur auf abstrakte Moralprinzipien oder die eigene Gesundheit. Viele von ihnen haben Enkelkinder, deren Zukunft der Klimawandel prägen wird. Auch Elisabeth Joris spornt der Gedanke an ihre zwei kleinen Enkelinnen an: "Kinder können ja nicht selbst klagen."
Susanne Schwarz