Wer sich für gesellschaftlich Benachteiligte, für Menschen auf der Flucht, für Umwelt- oder Klimaschutz einsetzt, wird oft als „Gutmensch“ verspottet oder beschimpft: Sein (oder ihr) Verhalten wird als unkritisch, übertrieben empathisch und tolerant, als naiv, dumm und weltfremd hingestellt. Zu den Zielen solcher Beschimpfungen zählen etwa die Bewohner:innen einer nachhaltig orientierten Genossenschaftssiedlung in Zürich oder ein Grünen-Politiker, der nach dem jüngsten IPCC-Bericht zum Handeln auffordert. Wer Bücher von Thilo Sarrazin kritisiert oder protestiert, wenn Worte wie „Sozialschmarotzer“ oder „unproduktive Unterschicht“ fallen, riskiert ebenfalls, als „Gutmensch“ tituliert zu werden. Und natürlich Klima-Aktive wie Greta Thunberg, die wie wohl kaum sonst jemand mit Hass und Häme regelrecht überschüttet wurde.
Die Caritas versucht das abschätzige G-Wort umzudrehen und ausdrücklich positiv zu besetzen: Alle Abbildungen in diesem Text sind Motive einer Werbekampagne des katholischen Sozialverbandes aus dem Jahr 2020; Quelle: Deutscher Caritasverband
Zu Beschimpfungen können weitere negative Reaktionen hinzukommen, wie Vorurteile, Diskriminierung im Alltag (z. B. bei Bewerbungsverfahren) oder Kontaktabbrüche unter Nahestehenden (Cramwinckel et al. 2015; Earle/Hodson 2017; MacInnis/Hodson 2017). Warum gute und gut gemeinte Taten so negative Reaktionen hervorrufen und wie man diese reduzieren kann, dazu hat die sozialpsychologische Forschung eine Reihe von Erkenntnissen zu bieten.
Innere Konflikte durch das Abwerten anderer auflösen
Eine erste, allgemeine Erklärung sieht den Ursprung für negative Reaktionen darin, dass Äußerungen oder Handlungen eines „Gutmenschen“ bei Dritten einen inneren Konflikt („Dissonanz“) auslösen. Beispielsweise könnte die Forderung nach Fleischverzicht jemandem, der mit Konsum von Fleisch vor allem Genuss verbindet, sauer aufstoßen, da sie den eigenen Interessen und Vorlieben zuwiderläuft, diese in Frage stellt oder gar gefährdet (Graça et al. 2016). Ein Konflikt kann auch entstehen, weil der Konsum von Tieren in Form von Fleisch schlecht mit der Tierliebe vereinbar ist, die die meisten Menschen für sich in Anspruch nehmen (Rothgerber 2014, Rothgerber 2020).
Menschen erleben derartige Konflikte als unangenehm. Sie versuchen deshalb, diese Konflikte und Widersprüche aufzulösen (Harmon-Jones/Harmon-Jones 2007). Das kann man zum Beispiel erreichen, indem man an der Störquelle ansetzt und die kritischen Äußerungen, Handlungen oder den Akteur selbst klein macht (Earle/Hodson 2017). Eine andere Möglichkeit wäre natürlich, die eigenen Verhaltensweisen zu ändern – aber dies ist häufig der deutlich schwierigere Weg (Rothgerber 2014, Rothgerber 2020).
Kein „Bösmensch“ sein wollen
Sich einem (vermeintlichen oder tatsächlichen) „Gutmenschen“ gegenüberzusehen, kann auch den Selbstwert einer Person bedrohen und dadurch Ablehnung provozieren. Denn die Forderungen und Taten von „Gutmenschen“ machen eines klar - welches Verhalten nämlich aus moralischer Sicht wünschenswert ist und was es zu tun gälte. Mit anderen Worten: Durch die Mahnungen oder vielleicht auch das tatsächliche Verhalten der sogenannten „Gutmenschen“ tritt das eigene unzulängliche Verhalten umso deutlicher zutage. Und der Vergleich bringt gewissermaßen ans Licht, dass dieses Verhalten keineswegs alternativlos und unvermeidlich ist.
Menschen streben nach einem positiven Selbstbild, und dazu gehört auch, dass man eine moralische Person sein will (Steele, 1988). Entsprechend wird das Infragestellen der eigenen moralischen Integrität bedrohlich und unangenehm empfunden (Monin 2007; O’Connor/Monin 2016). Das lässt sich sogar physiologisch in Form von Veränderungen im Herz-Kreislauf-System nachweisen: So erhöht beispielsweise die (Selbst-)Erkenntnis, etwas Unmoralisches getan zu haben, den Puls (Cramwinckel et al. 2013).
Einen verlockenden Ausweg bietet auch hier das Ablehnen oder gar Abwerten von „Gutmenschen“. Der Bezug zur Moral scheint bei diesem Prozess zentral zu sein. Denn wenn gute Taten aus nichtmoralischen Motiven erfolgen (z. B. Fleischverzicht aufgrund von geschmacklichen Vorlieben oder gesundheitlichen Überlegungen oder dem unterstellten Ziel, anderen Menschen eine Lebensweise vorschreiben zu wollen), dann bleibt das eigene moralische Gerüst eher unangetastet (Cramwinckel et al. 2013; MacInnis/Hodson 2017).
Keine Extrawurst für Veggies
Negative Reaktionen gegenüber „Gutmenschen“ können ihren Ursprung auch darin haben, dass sich die Gemeinten anders verhalten als weithin üblich (Kawamura & Kusumi, 2020; Parks & Stone, 2010). Gemessen an dem, was die Mehrheit der Bevölkerung tatsächlich tut, sind prosoziale oder umweltfreundliche Meinungen und vor allem Taten ja oft die Ausnahme: Unter Erwachsenen in der Schweiz finden sich beispielsweise nur fünf Prozent, die sich fleischlos ernähren. Der Anteil autofreier Haushalte in Österreich liegt bei einem Viertel. Und selbst der beachtliche Anteil von 43 Prozent, der in einer deutschen Befragung dem Klima zuliebe künftig aufs Fliegen verzichten will, stellt strenggenommen noch eine Minderheit dar (und wenn es ums wirkliche Umsetzen dieses Vorsatzes geht, dürfte die Zahl noch schrumpfen)
Das Verhalten von „Gutmenschen“ kann also bereits deshalb als störend empfunden werden, weil es von gängigen Verhaltensmustern abweicht, oder, um es soziologisch auszudrücken: weil eine deskriptive Norm verletzt wird, die beschreibt, was als „normales“ Verhalten gilt. Plakativ ausgedrückt: Dass sich „Veggies eine Extrawurst braten“, wird als anstößig empfunden. Manche mögen sich auch daran stören, weil dadurch (tatsächliche oder vermeintliche) Traditionen über den Haufen geworfen werden, beispielsweise der Verzehr spezieller Fleischgerichte zu bestimmten Festen (Markowski/Roxburgh 2019). Interessanterweise ist die Abneigung gegen mehrheitswidriges oder unkonventionelles Verhalten teilweise so stark, dass sie sogar dann auftritt, wenn das abweichende Verhalten eigentlich etwas Positives wäre und auch der kritisierenden Partei zu Gute käme, z. B. durch einen außerordentlichen Einsatz für die Gemeinschaft oder durch großzügige Spenden (Horne/Irwin 2016; Kawamura/Kusumi 2020).
Diskriminierung als Nebenwirkung sozialer Identitäten
Doch woher wissen Menschen überhaupt, was „normal“ ist und welche gesellschaftlichen Regeln es zu befolgen gilt? Hier spielt einmal der Begriff der deskriptiven Normen eine Rolle: Menschen lernen Normen, indem sie beobachten, wer welche Konventionen befolgt und wer sich in welchen Bereichen der Mehrheit widersetzt. So wird klar, welche Einstellungen und Vorlieben es unter den Mitmenschen gibt und welche von welchen sozialen Gruppen verkörpert werden (Kurz et al. 2020; Rosenfeld & Burrow, 2017).
Indem Menschen beobachten, welche Mitmenschen sich wie verhalten, entwickeln sie zudem eine soziale Identität: Es wird ihnen bewusst, mit welchen sozialen Gruppen sie sich identifizieren, welchem „normalen“ Verhalten sie sich annähern wollen und vom wem sie sich abgrenzen (Kurz et al., 2020; Nezlek/Forestell 2020). Typischerweise sind Menschen Mitglieder mehrerer Gruppen. Und je nachdem, wo man ist, was man gerade tut, oder mit wem man spricht, rückt eine bestimmte soziale Identität in den Vordergrund. Konkret: Bei einem Frauenstreik sieht sich Frau X in erster Linie als Frau, im Restaurant als Fleischliebhaberin, bei Verhandlungen mit anderen Betrieben als Mitarbeiterin ihres Unternehmens, und im Fußballstadion ist sie primär Fan ihres Vereins.
Die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen beeinflusst das Denken, Fühlen und Verhalten von Menschen. Je mehr sich Menschen mit einer Gruppe identifizieren, desto stärker teilen sie deren Wert- und Normvorstellungen, die Freude, wenn es der Gruppe gutgeht, und das Leid, wenn es ihr schlechtgeht (Täuber/Zomeren 2013). Mitglieder sozialer Gruppen tendieren außerdem dazu, die eigene Gruppe und deren Mitglieder gegenüber anderen Gruppen zu bevorzugen: Sie haben eine bessere Meinung von ihnen, vertrauen ihnen mehr, sind ihnen gegenüber empathischer, helfen ihnen mehr und bevorteilen sie (Balliet et al. 2014; Hewstone et al. 2002). Eine Folge der emotionalen Verbundenheit mit den eigenen sozialen Gruppen ist entsprechend, dass diejenigen, die zu anderen Gruppen gehören, benachteiligt werden; das geschieht ohne böse Absicht, quasi als Nebenwirkung der Identifikation mit der eigenen Gruppe (Balliet et al. 2014; Brewer 1999; Hewstone et al. 2002).
Psychologische Prozesse rund um soziale Identität können also zumindest teilweise Vorurteile und Animositäten zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen erklären. Eine holländische Studie zeigt das am Beispiel Straßenverkehr: Die sozialen Gruppen Fahrradfahrer:innen und Autofahrer:innen zeigten Denk- und Verhaltensmuster, wie man sie typischerweise im Zusammenhang mit sozialen Identitäten findet: So erwarteten beide Gruppen, dass Mitglieder ihrer Gruppe sie zuvorkommender behandelten (Vorfahrt gewähren), und sie befürworteten höhere Verkehrsbußen vor allem dann, wenn die jeweils andere Gruppe davon betroffen wäre (Hoekstra et al. 2018; für ähnliche Befunde im Ernährungskontext siehe Bagci et al. 2021).
Wenn sich Gleichgültigkeit in Feindseligkeit verwandelt
Es gibt auch Situationen, in denen Diskriminierung nicht bloß eine unbeabsichtigte Nebenwirkung ist, sondern aus Konflikten zwischen Gruppen hervorgeht. Beispielsweise können Streitereien über unterschiedliche Moralvorstellungen und insbesondere das Infragestellen der moralischen Integrität der eigenen Gruppe dazu führen, dass negative Gefühle aufkommen. Denn Menschen ist es wichtig, dass sie in ihrer Selbstwahrnehmung zu einer Gruppe gehören, die mit den eigenen Moralvorstellungen gewissermaßen im Reinen ist. Dass ihre Gruppe einen moralisch intakten Ruf genießt, ist ihnen gemäß Studien sogar wichtiger, als dass ihr Gruppe als „gesellig“ oder „kompetent“ wahrgenommen wird (Leach et al. 2007).
Wenn Mitglieder unterschiedlicher sozialer Gruppen einander unmoralische Ansichten oder Taten ankreiden, führt das oft zu negativen Gefühlen wie Verachtung, Wut oder schlechtem Gewissen (Brewer 1999; Rothschild/Keefer 2017; Täuber/Zomeren 2013). Und diese Gefühle können wiederum zu feindseligen Handlungen wie Beschimpfungen führen.
Tipps für „Gutmenschen“: Das Gegenüber bestärken …
Leider gibt es kein Patentrezept, um „Gutmensch-Attacken“ zu verhindern. Aus den Befunden der Sozialpsychologie lassen sich jedoch Strategien ableiten, die helfen könnten, über wichtige ethische Standards in der Gesellschaft zu sprechen, ohne feindselige Reaktionen auszulösen. Diese Strategien setzen genau an dem Punkt an, der die entsprechenden Attacken auslöst: Nämlich beim Gefühl der Bedrohung – sei es, weil man fürchtet, geliebte Dinge nicht mehr tun zu können oder weil man nicht als Mensch mit niedrigen moralischen Ansprüchen betrachtet werden will.
Forschungen zum Umgang mit ganz unterschiedlichen Bedrohungen zeigen, dass Menschen eher gewillt sind, sich schlechte Gesundheitsprognosen anzuhören oder schwierige Aufgaben in der Schule oder am Arbeitsplatz in Angriff nehmen, wenn gleichzeitig andere Aspekte ihrer Person bestärkt werden, die mit dem entsprechenden Bereich nichts zu tun haben (Cohen/Sherman 2014; Epton et al. 2015; Monin et al. 2008). In Studien wird das typischerweise so erreicht, dass Menschen an Dinge denken, die ihnen viel bedeuten oder auf die sie stolz sind (z. B. Lebensziele, Freundschaften, eigene Kompetenzen, gute Taten). Eine solche Selbstbestätigung verleiht innere Sicherheit, erhöht das Vertrauen in andere und macht aufgeschlossener. Dadurch wird es einfacher, sich Argumente anzuhören, die für einen selbst irgendwie bedrohlich sind; sie zu prüfen, die eigene Meinung zu ändern, mit Andersdenkenden zu verhandeln, Kompromisse mit ihnen einzugehen und Fehlverhalten von sich oder der eigenen sozialen Gruppe anzuerkennen.
In der Kommunikation könnte man Selbstbestärkung beispielsweise so einsetzen, dass man in einem Gespräch das Gegenüber zuerst über berufliche oder sportliche Erfolge sprechen lässt oder nach der letzten guten Tat fragt und erst dann heikle Themen anspricht. Richtet man sich dagegen an ein größeres Publikum (z. B. mit einem Zeitungsartikel oder einer Fernsehreportage) ist dies natürlich schwieriger, der Ansatz noch wenig erprobt. Erste Studien zum Umgang mit gesundheitlichen Risiken zeigen jedoch, dass Selbststärkung des Publikums auch hier die gewünschte Wirkung zeigen kann. Beispielsweise könnte man Menschen (rhetorisch) fragen, inwiefern sie bestimmte wünschenswerte Eigenschaften besitzen (z. B. enthusiastisch, fleißig, verantwortungsbewusst); oder man suggeriert dies direkt durch eine schmeichelnde Beschreibung einer sozialen Gruppe, zu der sie gehören („Als Mitglied von … ist es Ihnen wichtig, freundlich und hilfsbereit zu sein“) (Arpan et al. 2017; Jessop et al. 2009). Um erst danach etwaige Kritik anzubringen.
… oder Gelegenheit zu „guten Taten“ geben. Und mit Moral eher sparen
Statt Menschen vor der Konfrontation mit bedrohlichen Informationen zu bestärken, ist es auch denkbar, ihnen danach die Gelegenheit zu geben, moralisch zu handeln. So können Menschen mit bedrohtem Selbstwert bestätigen, dass sie moralische Personen sind, wodurch die Tendenz sinkt, andere zu diskriminieren (Does et al. 2011; Zane et al. 2016).
Eine weitere Strategie besteht darin, Bedrohung gar nicht erst aufkommen zu lassen. So sollte darauf verzichtet werden, moralische Argumente zu verwenden, wenn ein bestimmtes Verhalten gefordert wird. So vermeidet man die Abwehrreaktionen, die auftreten, wenn Menschen das Gefühl bekommen, als unmoralisch hingestellt zu werden. Wer also beispielsweise mit anderen über deren mangelnde Bemühungen für den Klimaschutz spricht, „verkauft“ das besser als Möglichkeit, bisherige Hindernisse zu überwinden oder an den eigenen Kompetenzen zu arbeiten statt als moralische Verfehlung. Damit reduziert man nicht nur negative Reaktionen, sondern spricht auch das Bedürfnis von Menschen an, an sich zu arbeiten, was wiederum die Chance erhöht, das Gegenüber zum Handeln zu motivieren (Täuber/Zomeren 2013). Das dürfte am besten funktionieren, wenn man Menschen auch gleich aufzeigt, was sie genau tun können.
Eine Studie mit Vegetarier:innen zeigt, dass diese solche und ähnliche Strategien bereits nutzen, um Mitmenschen nicht in unangenehme Situationen zu bringen: In Gesprächen mit Fleischesser:innen behalten sie ethische oder moralische Bedenken für sich, betonen stattdessen gesundheitliche Vorteile und sprechen auf eine Art und Weise über das Thema, dass Fleischesser:innen nicht den Eindruck bekommen, etwas falsch zu machen. Manche halten Gespräche zum Thema Vegetarismus kurz oder weichen ihnen ganz aus. Manche verheimlichen gar ihre Essgewohnheiten (Romo/Donovan-Kicken 2012).
Weil konfliktreiche Beziehungen zwischen sozialen Gruppen zur Problematik beitragen, bietet es sich bisweilen an, von sozialen Identitäten abzulenken. Das kann gelingen, indem man Schlagwörter vermeidet, die die entsprechenden sozialen Identitäten sozusagen aufrufen (zum Beispiel bei Lebensmitteln oder Speisekarten nicht von „vegetarisch“ sprechen oder von „für Veganer“, sondern lieber schreiben: „auf pflanzlicher Basis“). Jedenfalls sollte man möglichst oft so kommunizieren, dass sich möglichst viele Menschen angesprochen fühlen (Kurz et al. 2020). Oder man versucht andere, gemeinsame Werte anzusprechen (Gerechtigkeit, Sicherheit usw.) – oder betont statt der trennenden Aspekte (hier der Fleischesser, dort die Veganerin) lieber das, was einen verbindet: vielleicht das Christsein oder die Herkunft aus Bayern, die Liebe zum FC Sankt Pauli oder das gemeinsame Faible für US-Road Movies der 80-er Jahre, oder, oder, oder ... (Goldberg et al. 2019; Täuber et al. 2015).
Adrian Gadient-Brügger