Im Englischen gibt es zwei Worte für Gefühle, die man bei Verlust spürt: "despair" und "grief". Während das erste eher mit Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zu übersetzen ist, bedeutet "grief" im Deutschen so viel wie Kummer oder Trauer. Für Chris Jordan ist diese Trauer nichts Negatives, sondern verbunden mit Hoffnung und Liebe. Das schmerzliche Gefühl, das sich einstellt, wenn Tierarten aussterben oder Landschaften verschwinden, wenn Umweltverschmutzung oder Extremwetterereignisse ihre Zerstörungen hinterlassen, dieses Gefühl ist das große Thema des US-amerikanischen Fotografen und Filmemachers.
Als der Künstler an einem Spätsommertag auf dem Potsdamer Telegrafenberg seinen neuen Film "Albatross" das erste Mal einem deutschen Publikum vorspielt, sagt er: "Lasst die Trauer zu, lasst sie in eure Herzen, wehrt euch nicht dagegen. Trauer ist gut und wird zu Unrecht verdrängt." Weil viele Menschen Trauer negativ besetzten, begriffen sie das Potenzial des Gefühls gar nicht, ist Jordan überzeugt. Sein Film zeigt eindrücklich, was er meint.
Indem er Schönheit und Trauer verbindet, führt der Film von Chris Jordan eindrücklich die Bedrohung durch Plastikmüll vor Augen; Foto: Chris Jordan/Screenshot "Albatross"
Die Dokumentation über wilde Abatrosse im Nordpazifik ist tatsächlich eine Gefühlsreise: Am Anfang steht Staunen, Jordan baut eine fast mythisch-märchenhafte Stimmung auf, kommt den Albatrossen so nahe, dass den Zuschauern nichts übrig bleibt, als sich in die schönen und auf ihre Art komischen Vögel zu verlieben. Doch dann zeigt Jordan schockierende Bilder verendender Vögel, deren Mägen mit Plastik gefüllt sind. Er zeigt, wie Albatrosmütter ihre Jungen mit Plastik füttern. Verschlussdeckel von Limonadeflaschen, Zahnbürsten, Gummiringe werden zum Killer – und die Mägen der Vögel zum Spiegelbild unserer Konsumwelt. Nach anderthalb Stunden haben die meisten im Saal Tränen in den Augen, niemand klatscht. Viele sind hin- und hergerissen zwischen stiller Trauer und Wut.
"Fakten allein reichen nicht"
Der Ort der Filmvorführung ist das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Chris Jordan ist für sechs Wochen dort zu Gast – als Kulturschaffender inmitten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Seit 2011 beherbergt das Institut für sein Programm "Artist in Residence" regelmäßig Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt. "Fakten allein reichen nicht", sagt Margret Boysen, die das Programm leitet. "Ich bin überzeugt davon, dass wir eine Fusion aus wissensbasierter Vernunft, Liebe und Empathie brauchen, um Energie für die notwendigen Veränderungen der Gesellschaft aufzubringen."
Für die Zeit ihres Aufenthaltes in Potsdam dürfen die Stipendiaten den denkmalgeschützten "Kleinen Fotografischen Refraktor" nutzen, direkt gegenüber vom PIK-Hauptgebäude. Einst stand in dem kleinen Backsteingebäude ein großes Fernrohr, das zur Sternenfotografie genutzt werden konnte und mit dem Potsdamer Astronomen an der Erstellung einer internationalen Himmelskarte mitarbeiteten. Heute befindet sich unter der eindrucksvollen Kuppel ein heller Atelierraum, dazu – im ehemaligen Fotolabor – eine kleine Teeküche.
Die Künstler für das Programm werden von anderen Künstlern nominiert
Für das PIK sei die Künstlerresidenz mittlerweile eine feste Institution, sagt Boysen – und für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine willkommene Abwechslung und ein wichtiger Austausch. So sind zur Filmvorführung von Chris Jordan auch viele Mitarbeiter des Forschungsinstituts gekommen. "Der Film ist Dokumentation und Lyrik zugleich", erklärt Programmchefin Boysen. "Chris Jordan zeigt nicht nur das auf fatale Weise durch uns Menschen gefährdete Leben der Albatrosse, sondern er hat Emotionen wie Respekt, Liebe und Trauer in dem Film mitverarbeitet." Genau wegen dieses Ansatzes sei Jordan eingeladen worden. Bis Ende Oktober kann er mit dem Stipendium des Instituts nun ein neues Kunstprojekt entwickeln.
Organisation und Kosten teilt sich das PIK mit dem Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und der Stadt Potsdam. Auch bei der Auswahl der Künstlerinnen und Künstler arbeiten die drei Institutionen zusammen. Dabei können Kandidaten nur von anderen Künstlern nominiert werden – und weil das Programm vom DAAD unterstützt wird, darf nur teilnehmen, wer im Ausland lebt.
"Nach Ende der Residenz verlangen wir kein Produkt oder Ergebnis von den Gästen“, erklärt Margret Boysen. "Unser Schwerpunkt liegt auf dem Dialog zwischen den Künstlern und Wissenschaftlern unseres Instituts." Manchmal würden auch Veranstaltungen für eine größere Öffentlichkeit angeboten – so stellte Chris Jordan seinen Film nicht nur auf dem Telegrafenberg vor, sondern auch in der Stadt Potsdam.
"Emotion und Kognition sind gar nicht so weit voneinander entfernt"
Das Künstlerprogramm soll dabei helfen, die sperrigen Fakten der Wissenschaft nach außen zu kommunizieren und greifbar zu machen, damit Menschen ihr Handeln hinterfragen. "Emotion und Kognition sind gar nicht so weit voneinander entfernt", glaubt Boysen. "Wir müssen bloß etwas über das Verhältnis zwischen beiden lernen und dabei sind Künstler unerlässlich.“ Bisher nutzten vor allem bildende Künstler und Schriftsteller das Angebot des PIK, darunter Lars Gustafsson und Peter Weber.
"Wir handeln nur so viel, wie wir fühlen - und wenn wir dieses tiefe Gefühl haben, dann wissen wir auch, was zu tun ist", erklärt Gastkünstler Chris Jordan. Er ist sicher, dass die Kunst auch beim Thema Klimawandel Empathie erzeugen und so noch viel mehr erreichen kann als Wissensvermittlung allein. "Trauer ist dabei ein Türöffner und kann auch helfen, abstrakte Prozesse wie den Klimawandel spürbar zu machen." Das Kohlendioxid in der Atmosphäre sei schließlich unvorstellbar – aber die Kunst könne das Unvorstellbare fühlbar machen.
Was er in den nächsten sechs Wochen genau macht, darauf will sich der Chris Jordan nicht festlegen. Der Fotograf denkt über ein Buch zur "Umweltrauer" nach und über neue Fotoarbeiten. "Es wird", sagt Jordan, "wahrscheinlich um CO2 gehen."
Susanne Götze