Berichten Journalisten falsch oder unvollständig, haben Leserinnen und Leser nur wenige Reaktionsmöglichkeiten: Sie können einen Leserbrief schreiben, in der Redaktion anrufen oder ihre Meinungen und Korrekturen online unter den Artikel posten. Doch etliche Online-Medien sind gerade dabei, ihre Kommentar-Funktionen einzuschränken – der Umgangston in den sozialen Medien sei nicht mehr tragbar, so die Begründung vieler Verlage laut einer Umfrage des Branchenmagazins journalist. Einen neuartigen Weg für die Kommentierung von Medienberichten bietet seit März 2015 die englischsprachige Online-Plattform "Climate Feedback". Eine Auswahl von Klimawissenschaftlern kommentiert und bewertet dort regelmäßig Artikel über den Klimawandel – eine Art nachträgliches Peer-Review. Wobei die Forscher hier nicht die Arbeit ihrer Fachkollegen, sondern die von Journalisten analysieren.
Die Idee zu dem Projekt hatte vor einem Jahr der Klimawissenschaftler Emmanuel Vincent von der University of California: "Ich war oft sehr frustriert über die Klima-Berichterstattung, hatte aber keine wirksame Möglichkeit, meine Anmerkungen mit anderen zu teilen", erklärt Vincent. "Auf der anderen Seite habe ich mitbekommen, dass viele meiner Freunde angesichts der unterschiedlichen Berichte über den Klimawandel verwirrt waren. Und ich habe gemerkt, dass sie von meinen Kommentaren profitieren, dass sie über eine Einordnung und Bewertung dankbar sind."
"Climate Feedback" bewertet Medienberichte auf einer Skala von +2 bis -2
Aus diesem Service für Freunde ist mittlerweile eine Community mehr als hundert kommentierender Wissenschaftler geworden – sowohl aus den USA als auch aus dem Ausland (etwa vom norwegischen Meteorologischen Institut oder vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung, PIK). Der Projekttitel ist ein Wortspiel: Das englische "Feedback" (zu deutsch: "Rückkopplung") meint sowohl "Rückmeldung" als auch "Rückwirkung" - und mit dem Terminus "Climate Feedback" bezeichnen Fachleute diverse Rückkopplungen im Klimasystem, die den Klimawandel verstärken oder abschwächen können.
Im ersten Jahr seines Bestehens hat das Projekt bereits 24 Artikel analysiert – und das funktioniert so: "Climate Feedback" wählt einen Beitrag aus, zum Beispiel einen Text zum arktischen Meereis aus dem britischen Daily Telegraph vom 25. Juli 2015. Darin behauptet der Kolumnist Christopher Booker, es gebe eine Zunahme der Eismenge an Nord- und Südpol, was Warnungen vor der Erderwärmung widerlege. Das Urteil der Fachleute für die wissenschaftliche Korrektheit dieses Artikels: -2 auf einer Skala von +2 bis -2. Schlechter geht es also nicht.
Zu einem Artikel im Daily Telegraph (links) lautete die Bewertung der Wissenschaftler von Climate Feedback (rechts im Kasten): "wissenschaftliche Verlässlichkeit -2, very low"; Abbildung: climatefeedback.org
Dazu gibt es eine kurze Begründung des Urteils: "Dieser Artikel enthält bedeutende, wissenschaftliche Unkorrektheiten. Er nutzt anekdotische Behauptungen als Beweis, versucht den Langfristtrend mit jährlichen Eisveränderungen zu widerlegen und basiert auf einer rosinenpickerischen Auswahl von Informationen, um zu seiner Schlussfolgerung zu kommen." Um das Urteil transparent zu machen, sind auf der Projektwebsite dann noch die Einzelgutachten der beteiligten Wissenschaftler nachlesbar.
Eine Software erlaubt es, Originaltext und Kommentare parallel zu lesen
Der besondere Clou des Projekts erschließt sich, wenn man auf den Hinweis klickt: "Siehe alle Anmerkungen der Wissenschaftler im Kontext". In einem neuen Browserfenster öffnet sich dann der komplette Artikel im Originallayout – und gelb markiert sind Passagen, zu denen die Fachleute etwas angemerkt haben. Klickt man dort die entsprechende Passage an, öffnet sich der jeweilige Kommentar rechts vom Haupttext in einem separaten Fensterchen. Erklärt wird da zum Beispiel, warum einzelne Behauptungen haltlos sind oder welche Fachliteratur das Thema ausführlicher untersucht. Wenn beispielsweise in dem Booker-Text behauptet wird, Daten der Europäischen Raumfahrtagentur ESA zeigten eine drastische Zunahme des Eisvolumens am Nordpol - dann zitiert die zugehörige Anmerkung aus der ESA-Pressemitteilung zu exakt diesen Daten den Hinweis, dass die Zunahme eine kurzzeitige Erscheinung ist und nichts am langfristigen Eisschwund ändert. In 17 Anmerkungen von acht ausgewiesenen Fachleuten wird der Artikel des konservativen Telegraph-Kolumnisten so Punkt für Punkt seziert.
Möglich ist diese anschauliche Kommentierung durch die frei nutzbare Software Hypothes.is – sie funktioniert wie eine Art Folie, die sich über beliebige Webinhalte legen und mit Anmerkungen beschriften lässt. Der zu kommentierende Inhalt muss lediglich über die Hypothes.is-Website aufgerufen werden. Das Handicap: Die bewerteten Artikel werden häufig von hundertausenden Menschen gelesen, die Kommentare von viel weniger. "Wir hatten einen wirklich fragwürdigen Beitrag im Magazin Forbes, der bis zu 920.000 Klicks generiert hat – das zeigt die Dimension des Problems", meint Emmanuel Vincent.
Der Bewertungsprozess wird von den Forschern laufend weiter entwickelt. Nach der Auswahl eines Beitrages fragt ein Koordinator die Expertise von Wissenschaftlern inner- und außerhalb der Community an. Die Forscher sind angehalten, die Fakten zu prüfen, Quellen- und Literaturvorschläge zu machen und den Beitrag als Ganzes zu bewerten: Ist dieser präzise, logisch, objektiv?
Positiv sticht etwa die New York Times heraus, negativ das Wall Street Journal
Dabei vergibt das Projekt nicht nur schlechte Noten. Ein Artikel der The New York Times vom 20. Januar 2016 beispielsweise erhielt eine + 1,9. Ihm wurde also eine sehr hohe wissenschaftliche Verlässlichkeit bescheinigt. Doch selbst in diesem Text des Wissenschaftsredakteurs Justin Gillis über das Temperaturrekordjahr 2015 fanden die Fachleute noch Unkorrektheiten. Wo Gillis etwa schreibt, es habe seit 1998 eine "Phase relativ langsamer Erwärmung" (der Erde) gegeben, merkt Professor Eric Guilyardi von der Université Pierre et Marie Curie in Paris an: Bei den Temperaturen über der Landoberfläche mag es einen langsameren Anstieg gegeben haben – aber wenn man auch die Temperaturen des Wassers in den Weltmeeren berücksichtigt (das 93 Prozent der vom Menschen verursachten Erwärmung aufnimmt), habe es keine Verlangsamung der Erderwärmung gegeben.
Von den 24 Artikeln, die das Projekt im ersten Jahr seines Bestehens begutachtet hat, erhielten immerhin elf eine sehr gute Bewertung. Besonders häufig fanden sich "wissenschaftlich akkurate" Beiträge in der New York Times und der Washington Post - negative Bewertungen erhielten besonders häufig das Wall Street Journal oder das Wirtschaftsmagazin Forbes. Leider ist die inzwischen große Zahl der Artikel-Bewertungen nicht wirklich übersichtlich aufbereitet, auch eine Zusammenstellung der Feedbacks nach einzelnen Medien, Autoren oder Themen zum Beispiel fehlt.
Per Crowdfunding soll das Projekt ausgebaut werden
In seiner Idee ähnelt "Climate Feedback" dem seit drei Jahren bestehenden Dortmunder Projekt "Medien-Doktor Umwelt", das Medienbeiträge zum Thema Medizin und Umwelt bewertet. Dort gibt es von vornherein festgelegte Kriterien, sowohl allgemeinjournalistischer und fachspezifischer Art. Auch der "Medien-Doktor Umwelt" vergibt nach der Analyse eine Note: Ein bis fünf Sternchen zeigen an, wie seriös der Beitrag insgesamt ist. Die Gutachter sind hier allerdings nicht Fachleute aus der Wissenschaft, sondern andere Journalisten.
Der Gründer von Climate Feedback glaubt, die Arbeit trage bereits Früchte. "Der Daily Telegraph zum Beispiel hat unsere Bewertung veröffentlicht", berichtet Emmanuel Vincent. "Und ein Journalist des Magazins Slate kam direkt auf uns zu, damit wir seinen Artikel über die Folgen des Klimawandels kommentieren." Auch bei der Öffentlichkeit scheint die Idee anzukommen: Um das Projekt auszubauen und langfristig auf sichere Beine zu stellen, startete Vincent Ende April 2016 eine Crowdfunding-Kampagne. Er bat um 30.000 US-Dollar - und bereits nach gut einer Woche war mehr als die Hälfte davon beisammen.
sg