Die Studie ist schon fast 15 Jahre alt: In einer Online-Befragung der Universität Mainz im Jahr 2008 gaben 90 Prozent der Teilnehmenden an, in Zukunft CO2-neutrale Produkte kaufen zu wollen. Diesem Wunsch stehe ein äußerst mangelhaftes Angebot entgegen, kritisierten die Autor:innen damals. Heute hat sich zumindest Letzteres geändert – eine (zumindest laut Werbung) „CO2-neutrale“, „klimaneutrale“ oder gar „klimapositive“ Variante findet sich mittlerweile für fast alle Produkte oder Dienstleistungen, von der Milch bis zum Bankkonto.
Bei den Verbraucher:innen kommt das offenbar gut an. Laut einer repräsentativen Studie von ClimatePartner, einem Unternehmen, das Produkte und Unternehmen als „klimaneutral“ zertifiziert, achten fünfzig Prozent der Kund:innen zwischen 16 und 65 Jahren beim Einkaufen auf Informationen zur CO2-Bilanz. Auch unter den User:innen des Online-Magazins Utopia.de sind „klimaneutrale“ Produkte beliebt: In einer Umfrage gaben zwei Drittel der 4000 Teilnehmenden an, dass eine entsprechende Kennzeichnung für sie schon einmal ausschlaggebend gewesen sei für eine Kaufentscheidung.
Foto: CLEW / Finley Smee, CC BY 4.0
Dabei steht der Nutzen solcher Label immer wieder in der Kritik. Die Organisation Foodwatch warf 2021 die Frage auf, ob Wasser der Marke Volvic, das in Plastikflaschen aus Frankreich nach Deutschland gekarrt wird, wirklich gut fürs Klima sein kann. Das New Climate Institute und Carbon Market Watch kamen Anfang 2022 in einer Studie zu dem Ergebnis, 25 der größten Unternehmen weltweit könnten ihre Klimaversprechen nicht halten. Sehr anschaulich zeigte im vergangenen Jahr eine Recherche der ZEIT, wie einfach es ist, an ein entsprechendes Label zu kommen. Zwei Reporterinnen hatten sich als Inhaberinnen eines Blumenladens ausgegeben und versucht, ihr fiktives Unternehmen oder auch einen einzelnen Strauß als „klimaneutral“ zertifizieren zu lassen. Ihre Versuche bei drei unterschiedlichen Anbietern waren erfolgreich. Dabei hatten die vermeintlichen Gründerinnen bei der Zertifizierung einen auffällig niedrigen Energieverbrauch angegeben, doch Belege dafür wollte niemand sehen. Einer der Anbieter verlangte weniger als 50 Euro für das Label – davon floss gerade einmal ein (!) Cent in den Klimaschutz. Trickserei sei ohne großen Aufwand möglich, so das Ergebnis der Recherche.
„Ein Strauß leerer Versprechen“, lautete die Überschrift des ZEIT-Artikels. Noch expliziter mit "Der Klima-Betrug" war kürzlich eine Recherche betitelt, in der dasselbe Blatt weit überzogene Versprechen von Großkonzernen enthüllte. Warum aber animieren uns Labels wie "klimaneutral" überhaupt zum Kauf? Weshalb sind sie attraktiv für Kund:innen – und damit indirekt auch für Unternehmen, die etwas verkaufen wollen?
Bezeichnungen wie „klimapositiv“ oder „CO2-neutral“ eröffnen uns einen vermeintlich einfachen Weg, sich in einer komplexen Welt zu entscheiden, erklärt Wilhelm Hofmann, Professor für Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum, der außerdem der Task Force Mensch, Klima, Nachhaltigkeit der Deutschen Gesellschaft für Psychologie angehört. „Im Alltag begegnen uns immer häufiger Konflikte zwischen verschiedenen Motiven. Bei Kaufentscheidungen spielen zum Beispiel Gewohnheit und Preis, aber vermehrt auch unser moralisches Bewusstsein eine Rolle. Eine gute Entscheidung zu fällen – noch dazu in der Kürze der Zeit – ist oft sehr schwer.“ Ein Klimalabel sei in dieser Situation eine willkommene Möglichkeit, um die eigenen moralischen Ansprüche zu erfüllen – auch wenn es nur oberflächlich ist.
In Umfragen bekunden 90 Prozent der Menschen,
Klimaschutz sei ihnen sehr wichtig
Dass deren Bedeutung gestiegen ist, legt auch eine Umfrage des Versandriesen Otto aus dem Jahr 2020 nahe: 70 Prozent der Teilnehmenden (1149 Personen zwischen 14 und 70 Jahren) gaben an, dass ethische Kriterien ein fester Bestandteil ihrer Kaufüberlegungen geworden sind – immerhin sechs Prozentpunkte mehr als 2013. Unter ethischem Konsum verstehen demnach 77 Prozent auch, „klimaneutrale“ Produkte zu kaufen. Dazu passt, dass in der schon erwähnten Studie von ClimatePartner 90 Prozent der 16- bis 65-Jährigen angaben, Klimaschutz sei ihnen sehr wichtig.
Die persönliche Norm vieler Verbraucher:innen scheint sich also in Richtung Klimaschutz zu verschieben. Dass sie so gern zu „klimaneutralen“ Produkten greifen, könnte paradoxerweise auch daran liegen, dass sie im Alltag oft nicht gemäß dieser Überzeugung handeln. Weichen nämlich unsere Werte von unserem Verhalten ab, entsteht etwas, das Psycholog:innen „kognitive Dissonanz“ nennen. Das Handbuch Psychologie im Umweltschutz (2016 herausgegeben von der gleichnamigen Initiative IPU) beschreibt dieses Phänomen als einen „unangenehmen Spannungszustand, der in uns den Drang auslöst, gemäß unseren Werten zu handeln“. Finden wir Klimaschutz grundsätzlich wichtig, haben uns in der Vergangenheit aber klimaschädlich verhalten (sind zum Beispiel geflogen), kann diese Diskrepanz also dazu führen, dass wir unser Verhalten künftig unseren Werten anpassen.
Doch es sind auch andere Auflösungen der Spannung möglich: Wir könnten unsere Werte ändern, damit sie nicht mehr in Konflikt zu unserem Handeln stehen – also etwa die Wichtigkeit von Klimaschutz relativieren oder die Klimaschädlichkeit des Fliegens herunterspielen. Oder wir leugnen das zugrundeliegende Problem, also bestreiten vollends die Existenz des Klimawandels.
Wie der Kauf als klimaneutral gekennzeichneter Produkte zu erklären ist, hängt dabei maßgeblich davon ab, wie der oder die Einzelne solche Produkte bewertet. „Man kann das als problemorientiert verstehen, wenn jemand wirklich davon überzeugt ist, mit dem Kauf zum Klimaschutz beizutragen“, erläutert Karen Hamann, eine der Autor:innen des IPU-Handbuchs. Zweifle hingegen eine Person am Klimanutzen des „klimaneutralen“ Produkts, handele es sich bei der Kaufentscheidung vielmehr um eine emotionale Bewältigungsstrategie: „Man passt sein Verhalten ein bisschen an, damit man sich besser fühlt“, so Hamann. Statt sich der Angst und der Schuld zu widmen, die ein so komplexes und allumfassendes Problem wie der Klimawandel in uns auslösen kann, oder sich tatsächlich für besseren Klimaschutz einzusetzen, lenken wir uns vom Problem ab.
Zum Beispiel, indem wir uns auf kleine positive Aktionen konzentrieren. „Deren tatsächlicher Nutzen ist aber so irrelevant, dass sie eigentlich nur dazu dienen, die eigenen Emotionen zu regulieren“, sagt Hamann. Dass wir einen klimaneutralen Pullover gekauft haben, gibt uns demnach beispielsweise das Gefühl, Handlungsmacht und Kontrolle im Umgang mit dem Klimawandel zurückzugewinnen (und eröffnet den Weg, gleichzeitig Konsumwünsche zu erfüllen). In der Realität kann diese Bewältigungsstrategie allerdings sogar dazu führen, dass wir uns noch klimaschädlicher verhalten als sonst: Statt eines Pullis ohne Klimalabel kaufen wir zwei mit Klimalabel – wir haben ja, glauben wir, etwas Gutes fürs Klima getan. Fachleute sprechen hier von einem Rebound-Effekt.
Ein „klimaneutrales“ Produkt kann der einfachste Weg sein,
eigenen Werten zu folgen
Besonders leicht fällt uns ein solcher Einkauf auch deshalb, weil er sehr geringe Verhaltenskosten nach sich zieht. Laut IPU-Handbuch beeinflussen (neben unseren persönlichen Überzeugungen) auch diese Kosten maßgeblich unser Verhalten. Würden wir wirklich gemäß unseres Wunsches handeln, zum Klimaschutz beizutragen, würden wir den Pulli wohl am besten gar nicht kaufen, ein gebrauchtes Angebot suchen oder zumindest recherchieren, wie groß die Klimafolgen der Pulloverproduktion in diesem Fall sind. Bei all diesen Optionen allerdings sind die Verhaltenskosten – zum Beispiel in Form von Zeitaufwand – sehr hoch. Greifen wir stattdessen zu einem „klimaneutralen“ Exemplar, kostet uns das höchstens ein paar Euro mehr.
Für den Erfolg solcher Produkte könnte der Preisunterschied sogar wichtig sein. So zeigte die Studie Going Green to Be Seen, die 2010 im Journal of Personality and Social Psychology erschien, dass statusbewusste Käufer:innen gern zu „grünen“ Produkten greifen – aber nur, wenn diese teurer sind als konkurrierende Angebote und der Kauf in der Öffentlichkeit stattfindet. Das traf sogar dann zu, wenn das billigere Produkt luxuriöser ausfiel als die umweltfreundliche Variante. Die Autor:innen erklären das unter anderem mit der Theorie des kompetitiven Altruismus: Wer sich ein umweltfreundliches Angebot leisten kann, signalisiert, dass er oder sie zum Wohl der Gesellschaft eigene (finanzielle) Nachteile in Kauf nimmt. Gleichzeitig zeigt man, dass man genug Ressourcen hat, um diese Kosten zu tragen. Die Autor:innen schlussfolgern, dass das Streben nach Status sich durchaus nutzen lasse, um umweltfreundliches Verhalten hervorzurufen.
Das Verändern von Rahmenbedingungen
ist wirksamer als einzelne Konsumentscheidungen
„Klimaneutrale“ Produkte als Statussymbol – soll man das wollen? Psychologe Wilhelm Hofmann ist skeptisch: Auf den ersten Blick sei es für das Klima zwar egal, aus welchem Grund jemand eine klimafreundliche Kaufentscheidung treffe – ob intrinsisch motiviert oder um an Ansehen zu gewinnen. „Aber wenn es mit dem Klimaschutz vorangehen soll, dürfen klimaneutrale Produkte kein Luxus sein“, fordert er. Vielmehr sieht er es als Aufgabe der Politik, Konsumlandschaften so zu gestalten, dass man sich ausschließlich zwischen verschiedenen richtigen Optionen entscheiden kann – dass also infolge staatlicher Regulierung möglichst alle Produkte klimafreundlich produziert werden.
Viel gewonnen wäre bereits, wenn klimafreundliches Verhalten zumindest nicht erschwert würde (etwa durch ein schlechtes Angebot öffentlicher Verkehrsmittel) oder unnötig teuer ist (zum Beispiel durch das Subventionieren fossiler Energieträger). Rahmenbedingungen so zu verändern, das Klimaschutz ein bequemer Weg wird, bringt mehr als eine einzelne, individuelle Konsum- oder Verhaltensentscheidung.
Hofmann empfiehlt jedenfalls, kollektives Handeln in den Blick zu nehmen: Sich also zum Beispiel politisch zu engagieren, anstatt stundenlang nach dem tatsächlich klimafreundlichsten Pullover zu suchen. „Die Verhaltensforschung legt nahe, dass es für Verbraucher:innen fast unmöglich ist, nachhaltige Kaufentscheidungen zu treffen, wenn Signale wie der Preis oder die Verfügbarkeit in eine andere Richtung zeigen“, sagt er. Daran würden auch Label nichts ändern, deren Aussagen die Konsument:innen ad hoc kaum nachvollziehen könnten. Höchstens eine eingängige und schnell verständliche CO2-Ampel nach Vorbild des Nutri-Scores würde Hofmann sich wünschen – aber gern verpflichtend. „Die würde zum Beispiel auf einen Blick zeigen, dass die Herstellung von Margarine sehr viel weniger Treibhausgase verursacht als die von Butter.“
„Wenn ich nicht fliege und mit anderen Menschen darüber rede,
kann das wiederum deren Entscheidung beeinflussen“
Nichtsdestotrotz betonen Hofmann und Hamann, dass auch das individuelle Verhalten wichtig ist – aber nicht so sehr wegen der konkret vermiedenen Gramm oder Kilogramm an Emissionen, sondern wegen seiner Wirkungen auf andere: „Wenn ich als Wissenschaftlerin nicht fliege und darüber mit meinen Kolleg:innen in Austausch trete, kann das wiederum deren Entscheidung beeinflussen“, erklärt Hamann. Auch privates Verhalten verändere so indirekt die soziale Norm – und die zählt neben den persönlichen Werten und den Kosten beziehungsweise dem Nutzen einer Handlung zu den wichtigsten Faktoren, die unser Umweltverhalten beeinflussen. Kurzgesagt: Ob die Gruppen, mit denen wir uns identifizieren, „klimaneutrale“ Produkte bevorzugen, ist für unsere Kaufentscheidung mindestens genauso wichtig wie unsere eigenen Überzeugungen.
Sollten wir also doch „klimaneutral“ einkaufen (und darüber reden), damit möglichst viele es uns gleichtun? Wilhelm Hofmann ist zwiegespalten. Die Vorbildfunktion des eigenen Handelns – auch und vor allem für Kinder und Jugendliche – sollte man nicht unterschätzen, sagt er. Und rät gleichzeitig dazu, die Orientierung an Begriffen wie „klimaneutral“ und „CO2-neutral“ im Zweifel aufzugeben. Einen Schlüssel für einen wirklich nachhaltigeren Konsum sieht er darin, die eigenen Bedürfnisse besser zu ergründen, ihnen wirklich nachzuspüren – und mehr Genuss aus den gleichen Erfahrungen zu ziehen oder suffiziente, wenig klimaschädliche Quellen von Freude zu entdecken. In Begegnungen mit Menschen statt in Konsum oder beim eigenständigen Reparieren zum Beispiel. Denn das Loch im alten Pulli zu flicken (und sich darüber zu freuen, dass man es hinbekommen hat), ist fürs Klima auf jeden Fall besser, als sich einen neuen in den Schrank zu hängen. Egal, welches Label er trägt.
Theresa Horbach
In einem umfangreichen Themenschwerpunkt beschäftigt sich unser
(englischsprachiges) Schwesterprojekt Clean Energy Wire (CLEW) seit Monaten
mit Umweltaussagen von Unternehmen und wie man damit umgeht