Die Jungen schwänzen die Schule, weil die Alten ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. So ließe sich knapp zusammenfassen, warum seit Wochen zehntausende Schülerinnen und Schüler in vielen Ländern Europas und in Australien für Klimaschutz streiken. Ihr Hauptvorwurf lautet, die Politik unternehme zu wenig - und ganz generell lebten die Erwachsenen heute auf Kosten der jungen Generation. Angesichts der Teilnehmerzahlen, der Vielzahl der Demonstrationsorte und der anscheinend anhaltenden Dynamik wird zunehmend gefragt: Sehen wir hier den Beginn einer lange überfälligen Klimabewegung? Oder wird der Protest bald abebben? Und was könnte trotzdem übrig bleiben?
Hüpfend gegen die Kälte - und gegen Kohle: Demo-Begeisterung vergangenen Freitag in Berlin. Nach Einschätzung des Protestforschers Dieter Rucht werden die Klimastreiks sicherlich noch eine Weile anhalten; Screenshot: Twitter/Kohleausstieg Berlin
Der Soziologe und Protestforscher Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) untersucht seit Jahrzehnten, wie Proteste entstehen, wie sie Anhänger gewinnen und Schlagzeilen machen. Viele verschwinden bald wieder in der Bedeutungslosigkeit, nur manche schaffen den Durchbruch - doch was unterscheidet die einen von den anderen? Rucht zieht eine klare Linie zwischen Kampagnen und sozialen Bewegungen. Die aktuellen Klimastreiks verortet er noch unter politischen Kampagnen, die er als "zeitlich und sachlich eng begrenzt" definiert. Soziale Bewegungen hingegen stehen für einen größeren gesellschaftlichen Wandel. Dabei werden Machtverteilungen und politische Strukturen bekämpft (oder auch verteidigt). Bei den aktuellen Schulstreiks, so der Wissenschaftler, fehle ihm die konkrete Idee, wie die Gesellschaft umgestaltet werden könnte.
"Das Thema wird nach oben gezogen. Das macht vielen Menschen Mut"
Bei speziellen Themen wie dem Klimawandel seien es grundsätzlich zwei Gründe, die Menschen zu Aktivitäten motivieren, erklärt Rucht: Zum einen kann man für die eigene Person kämpfen, wenn man etwa die gesundheitliche oder berufliche Existenz bedroht sieht. Zum anderen kann man aus einer moralischen Empörung heraus agieren. Die Klimastreiks seien eine Mischform - der Blick in die Zukunft mache in beiderlei Hinsicht betroffen. Dass das Thema jungen Menschen wichtig ist, bestätigt eine Studie des World Economic Forum von 2017. Rund 31.000 Jugendliche aus 186 Ländern wurden dafür befragt. Klimawandel wurde unter den Sorgen an allererster Stelle genannt, noch vor Terrorismus, Kriegen, Armut und Arbeitslosigkeit.
Laut Ruchts Einschätzung werden die Proteste sicherlich noch eine Weile anhalten. Ein unmittelbarer Effekt werde aber – so wie es im Moment aussieht – ausbleiben: "Die Politik wird eher nicht mit einer neuen Gesetzgebung reagieren." Auch die Erwachsenen werden kaum wachgerüttelt werden, schätzt der Wissenschaftler. Dennoch seien die Schülerstreiks insgesamt ein Erfolg für eine Klimabewegung: "Das Thema wird nach oben gezogen. Das macht vielen Menschen Mut."
Klimawandel hat viele Facetten - das macht die Bewegungsbildung schwer
Ein Zerfasern von Protesten könne einsetzen, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer feststellen, dass sie wenige Gemeinsamkeiten haben, so Rucht. Dass der Klimawandel so viele Facetten habe und so viele verschiedene Interessen berührt, könnten ein wesentlicher Grund dafür sein, dass bislang keine einheitliche und globale Bewegung entstanden ist. Bei dem Thema geht es um Menschenrechte, Gesundheit, Biodiversität, Wirtschaft, Ernährungssicherheit - die Liste lässt sich noch lange fortführen.
Doch erinnert man sich an die Studentenbewegung von 1968, so waren auch ihre Anliegen vielseitig. Unter der Forderung nach "Mehr Demokratie!" wurden zum Beispiel Minderheiten-, Frauen- und Homosexuellenrechte gebündelt. Damals gelang es, eine neue politische Kultur zu etablieren. Die Protestierenden traten jedoch provokanter auf als heute die klimastreikenden Schüler und Jugendlichen - daher war auch die gesellschaftliche Reaktion heftiger, so Rucht. Mit performativen und direkten Aktionen und der Strategie der "begrenzten Regelverletzung" wurde versucht, die Sichtweise auf die etablierte Ordnung zu verändern - im Vergleich zu den damaligen Protesten wirkt Schulschwänzen als Regelverletzung noch vergleichsweise moderat.
Es fehlen klare Feindbilder: "Abstraktes reißt die Leute nicht vom Hocker"
Eine weitere Besonderheit sei, dass beim Klimawandel die "Feindbilder" abstrakter sind, das Thema sich schwerer personalisieren lässt. Konkrete Anknüpfungspunkte jedoch helfen in der Regel, um erfolgreich zu Protesten zu mobilisieren. "Nur Abstraktes reißt die Leute nicht vom Hocker", sagt Rucht. "Es braucht meist auch ein Objekt." Als jüngeres Beispiel nennt er die Besetzung des Hambacher Forst - damit gab es plötzlich ein konkretes Symbol für das eher allgemeine Thema Kohleverstromung.
Im Vergleich zu 1968 hätten sich auch die Lebensrealitäten deutlich verändert, erinnert der Wissenschaftler. Früher gab es stabile Milieus, man war im Sportverein, im Gesangsverein, in der Gewerkschaft. "Es existierte mehr eine hermetische Welt, die sich selbst bestärkt hat", so Rucht. Heute sei nicht mehr eine Sache lebenslang bestimmend, sondern es komme vermehrt zu einem situativen Engagement. "Die Themen wechseln sich immer schneller ab." Menschen tauchen heute viel öfter phasenweise in unterschiedliche Milieus ein. Viel stärker als früher würden Entwicklungswege bewusst gewählt. "Man bastelt sich seine eigene Biografie zurecht und engagiert sich für Themen, die man – auch medial vermittelt – als dringlich empfindet." Daher könnte den Schulstreiks ein Schicksal drohen wie der von Nordamerika ausgehenden wirtschaftspolitischen Bewegung "occupy" - sie wuchs schnell, wurde medial viel beachtet, und zerbröselte dann doch wieder.
Lähmende Angst in der Gruppe überwinden
Könnten soziale Medien, die von Jugendlichen schon selbstverständlich genutzt werden, nun solchen Protesten mehr Rückenwind geben? Dieter Rucht differenziert: Das Netz schafft zwar Aufmerksamkeit - viel stärker aber regt persönliche Interaktion zum Handeln an. Persönliche Beziehungen und ein Gruppengefühl seien weiterhin grundlegend für ein aktives Engagement. Das bestätigt die Salzburger Umweltpsychologin Isabella Uhl-Hädicke. Ein sogenannter "Ansteckungseffekt" im Umweltschutz setze am ehesten dann ein, wenn die Vorbild-Person aus einer Gruppe kommt, der man sich zugehörig fühlt, erklärt sie. Dass die Klimastreik-Bewegung allein in Deutschland inzwischen mehr als hundert Ortsgruppen hat, könnte also ein wichtiger Schritt zu weiterem Wachstum und längerfristiger Etablierung sein.
Dass noch keine größere Protestbewegung im Klimaschutz entstanden ist, hat laut Uhl-Hädicke auch mit den Mechanismen von Angst zu tun. Immer neue Studien oder auch die Großberichte des Weltklimarats IPCC bestätigen zwar, dass ein Bremsen des Klimawandels noch möglich ist. Dafür braucht es aber schon in den kommenden zehn Jahren massive Veränderungen - und das erzeuge Verunsicherung und Ablehnung, so die Psychologin. Wer will schon hören, dass er auf etwas verzichten soll - oder in naher Zukunft vielleicht sogar muss? Ihre eigene Forschung zeigt, dass Menschen sich als Reaktion oft abschotten: Je existenzieller die Bedrohung erscheint, umso geringer wird sogar die Bereitschaft, das eigene Verhalten zu ändern. Auch deshalb hat die reine Informationsvermittlung zum Klimawandel so wenig Folgen.
"Wichtiger als Betroffenheit ist ein Gefühl von Selbstwirksamkeit"
"Allein kommt es viel schneller zu einem Ohnmachtsgefühl", sagt Uhl-Hädicke. "Aus psychologischer Sicht ist es daher enorm wichtig, in Gruppen zu handeln." Das kollektive Gefühl, das die aktuellen Streiks vermitteln, bleibt den Schülerinnen und Schülern, selbst wenn die Proteste wieder abebben sollten. Dieses Erleben, gemeinsam etwas anzupacken, war auch die Idee hinter einem Projekt der Wissenschaftlerin an der Uni Salzburg. Bei einer "Green WG Challenge" mussten 30 Studierende innerhalb von zehn Wochen zehn Umwelt-Aufgaben erledigen. Ziel war es, nachhaltige, aber relativ einfach umzusetzende Verhaltensweisen zu entwickeln. Es entstand schnell "ein Schneeballeffekt über ganz Salzburg", sagt Uhl-Hädicke. Bald schlossen sich auch Leute außerhalb der Universität an.
Dies könne ein Schlüssel sein, um die soziale Stille rund um den Klimawandel zu überwinden. Berichte über versinkende Inselstaaten könnten zwar kurzzeitig emotionalisieren - wichtiger als Betroffenheit sei allerdings Selbstwirksamkeit. "Die Leute müssen das Gefühl haben, dass man noch etwas bewirken kann."
Als Abordnung der streikenden Schüler wurden am vergangenen Freitag einige Jugendliche in Berlin von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) empfangen; Foto: BMWi/Susanne Eriksson
Dieses dürfte sich bei etlichen der Kinder und Jugendlichen einstellen, die sich an den Schulstreiks fürs Klima beteiligen. Schon regelmäßige Teilnehmerzahlen von mehreren Tausend sind ein Erfolg. Bei ihrer zentralen Demonstration am vergangenen Freitag in Berlin wurden fünf Vertreter der Jugendlichen ins Bundeswirtschaftsministerium gebeten. Sie übergaben einen Forderungskatalog mit fünf konkreten Punkten, trafen Minister Peter Altmaier (CDU) und durften in der entscheidenden Sitzung der Kohlekommission kurz reden. "Und zwar zu einem wichtigen Zeitpunkt, nämlich als wir anfingen, die wirklichen Knackpunkte zu diskutieren", erinnert sich Barbara Praetorius, eine der vier Vorsitzenden. "Die Schüler haben in der Kommission großen Eindruck gemacht, es gab viel Beifall. Diese Bewegung insgesamt ist sehr wichtig. Sie zeigt allen, wie wichtig klare Weichen für Klimaschutz und Nachhaltigkeit sind." Und als am nächsten Morgen das Ergebnis feststand, fanden sich einige Forderungen zumindest teilweise im Schlussbericht umgesetzt.
Die Welle der Schüleraktionen geht derweil weiter. Am kommenden Samstag, 2. Februar, sind unter anderem in der Schweiz landesweite Klimademonstrationen geplant. Vergangene Woche deutete sich an, dass die Jungen dabei womöglich auch die Älteren mitreißen könnten. Als etwa Ende Januar in der Schweiz mehr als 22.000 Jugendliche in 16 Städten demonstrierten, waren in ihren Reihen schon etlich Erwachsene zu entdecken.
Julia Schilly