Matthias Beller studierte Chemie in Göttingen und am MIT in Boston, ist Professor für Chemie an der Universität Rostock und seit 2005 Direktor des Leibniz-Institut für Katalyse in der Hansestadt. Daneben ist er in der Leibniz-Gemeinschaft, einem der großen Zusammenschlüsse deutscher Forschungseinrichtungen, Präsidiumsbeauftragter für die Evaluierungsverfahren - also zuständig für die wissenschaftliche Qualitätssicherung.

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Herr Professor Beller, woran erkennt man echte Wissenschaft?

Das ist eine außerordentlich schwierige Frage, denn Wissenschaft ist heute in vielen Fällen komplexer als früher. Selbst für Fachleute ist es häufig nicht einfach, korrekte und sachlich richtige Wissenschaft sofort von manipulierten Daten und unseriösen Veröffentlichungen zu unterscheiden. Und diese Schwierigkeit ist in der heutigen Zeit auch noch besonders problematisch, weil falsche Aussagen über das Internet und elektronische Medien sehr schnell multipliziert werden – und dadurch viel schneller Gewicht bekommen als früher.

Sie sind Professor für Chemie und – nehmen wir einmal an – lesen auf einem Blog, dass irgendein Professor aus Schweden etwas Sensationelles herausgefunden hat: dass alles, was wir bisher über chemische Reaktionen dachten, völlig verkehrt sei.

Das macht mich zunächst einmal neugierig! Für einen Wissenschaftler ist Neugier die wohl wichtigste Triebkraft. Und wenn etwas unglaublich klingt, dann ist das erstmal spannend. Ich würde mir das also genauer ansehen.

Was genau würden Sie sich ansehen?

Zunächst würde ich schauen, ob die von ihm präsentierten Daten mit seinen Schlussfolgerungen in Übereinstimmung zu bringen sind. Wobei dies insbesondere für die Naturwissenschaften gilt. Wir haben den großen Vorteil, dass korrekte Wissenschaft in der Regel daran zu erkennen ist, dass ein Experiment reproduzierbar ist, dass ich also unter denselben Bedingungen dasselbe Ergebnis erhalte. Bei den Wirtschafts- oder den Sozialwissenschaften ist das noch komplexer, weil identische Bedingungen schwerer zu schaffen sind.

Aber zurück zu Ihrer Frage: Wenn ich aus gezeigten Daten eine Schlussfolgerung nicht ableiten kann oder gar keine Daten gezeigt werden, würde ich kritisch sein ...

Aber als Nicht-Chemiker kann ich so etwas doch kaum beurteilen!? Hört ein Laie einen akademischen Titel – Professor oder Doktor –, dann ist er oft erstmal beeindruckt. Was kann ich tun, um die Verlässlichkeit einer Aussage abzuschätzen?

Es wäre ein vernünftiges Vorgehen, bei einem Doktor als erstes zu schauen, in welcher Disziplin er seinen Doktortitel erworben hat – und ob es die Wissenschaftsdisziplin ist, zu der er sich gerade äußert.

Wenn also jemand etwas über ein neues Krebsmedikament sagt, dann schaue ich, ob die Person Medizin studiert hat?

Genau.

Und dann gucke ich nach der Spezialisierung – also ob jemand Onkologe ist oder, sagen wir, Zahnarzt.

Ja, das würde sicherlich helfen, die gröbsten Schnitzer herauszufiltern – aber eine hundertprozentige Sicherheit bekommen Sie dadurch natürlich nicht. Vergangene Woche erst habe ich von einem chilenischen Uni-Präsidenten gehört, dass es in seinem Land einfacher sei, eine Universität zu eröffnen als einen Schnapsladen. Da können Sie natürlich schnell einen Doktortitel im gewünschten Fach bekommen. Aber Sie haben schon recht, im Grunde sollte man so mit seiner Prüfung vorgehen.

Wie mache ich dann weiter?

Ich würde mir ansehen, wie renommiert eine Person ist, also ob sie schon länger auf dem fraglichen Fachgebiet arbeitet. Dafür überprüfe ich, ob und seit wann und wie viel jemand zu einem Thema publiziert hat, wie stark die Veröffentlichungen wahrgenommen, wie oft sie zitiert werden, also wie stark andere Veröffentlichung auf ihnen aufbauen. Es gibt in der Wissenschaft eine Vielzahl an kleinen Mosaiksteinen, mit denen ich die Glaubwürdigkeit einer Person relativ gut erfassen kann.

Mit Veröffentlichungen meinen Sie Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften – nicht Artikel oder Kommentare in Tageszeitungen oder Blogbeiträge. Aber wie finde ich heraus, was jemand publiziert hat?

Es gibt eine ganze Reihe von Datenbanken, ich möchte hier keine Werbung machen. Ich persönlich nutze sehr häufig Web of Science und Scopus

… wo man, zumindest bei letzterer, auch ohne speziellen Zugang und damit kostenfrei zumindest Namen recherchieren kann. Wenn ich dort zum Beispiel Ihren eingebe, sehe ich nach zwei Klicks mehr als 800 Publikationen mit mehr als 150 Co-Autoren seit 1989, die mehr als 20.000-fach zitiert wurden. Ich muss aber auch darauf achten, ob es sich um Veröffentlichungen in "begutachteten Fachzeitschriften" handelt, richtig?

Korrekt, in der heutigen Wissenschaft ist das sogenannte Peer-Review ein ganz wichtiges Kriterium. Dabei werden Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften vor der Veröffentlichung von Fachkollegen gegengelesen. Und wenn diese Gutachter Einwände haben, müssen die Autoren darauf eingehen.

"Der normale Verbraucher verbindet mit dem Begriff 'Institut' ja eine Einrichtung, wo Leute nicht eigene Interessen verfolgen - sondern im Sinne des Allgemeinwohls Forschung betreiben. Aber das trifft nicht in allen Fällen zu."

Prinzipiell kann man sagen, dass Wissenschaft heute in einem Maße überprüft wird wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Dass es dabei auch mal Probleme gibt, ist bei der Anzahl der Veröffentlichungen nicht ungewöhnlich – aber das sollte man nicht mit Mängeln am Gesamtsystem verwechseln.

Nun gibt es allerdings immer häufiger Zeitschriften, die nur so tun, als gäbe es bei ihnen ein Peer-Review ...

Ja, diese sogenannten "Junk Journals" machen das Überprüfen der Glaubwürdigkeit noch schwieriger. Es ist eine typische Masche, dass irgendwelche Leute, häufig in Indien oder China, irgendwelche Zeitschriften gründen, die gelegentlich auch noch namensähnlich mit bekannten Journalen sind. Wer dafür bezahlt, kann dort veröffentlichen, was er will – und bekommt dafür die Möglichkeit, eine Veröffentlichung vorzuweisen und eine gewisse Seriosität vorzutäuschen.

Ich bekomme fast jede Woche Einladungen, im Beirat irgendeines asiatischen Journals mitzumachen. Der Name soll der Publikation einen gewissen internationalen Anstrich geben. Allein in dem Bereich der Naturwissenschaften, den ich überblicke, gibt es inzwischen Hunderte von Internet-Zeitschriften mit teils sehr zweifelhaftem Peer-Review-Verfahren.

Wie kann man die erkennen?

Auch dies ist schwierig, aber es gibt einige Faustregeln: Man kann schauen, wie lange eine Zeitschrift schon existiert. Wer dort publiziert und wie viel. Ob es ein Editorial Board gibt, und ob ein bekannter Fachverlag dahintersteht und so weiter.

Manche Leute schmücken sich auch mit Namen von Forschungseinrichtungen. Stellen Sie sich vor, Sie hören den Namen "Europäisches Institut für xy" …

(lacht) Mit relativ simplen Mitteln kann da dem Nicht-Fachmann etwas vorgespielt werden, was nicht der Realität entspricht. Der normale Verbraucher verbindet mit dem Begriff "Institut" ja eine wissenschaftliche Institution, in der Regel eine staatliche, wo Leute nicht eigene Interessen verfolgen - sondern im Sinne des Allgemeinwohls Forschung betreiben. Aber das trifft nicht in allen Fällen zu.

Wie prüfen Sie als Fachmann, ob ein Institut tatsächlich echte Wissenschaft macht?

Naja, wenn Sie zum Beispiel über ein "Europäisches Institut für Journalismus" stolpern würden, und dann stehen da nur fünf Leute auf der Website... Das ist schon etwas, wo man misstrauisch werden sollte. Als nächstes würde ich schauen, was dort publiziert wird – also ob die Mitarbeiter und das Institut Fachaufsätze in echten, wissenschaftlichen Journalen vorweisen können. Es sollten im Sinne der Transparenz auch immer die Geldgeber und die Auftraggeber von Forschungsprojekten mitgeteilt werden.

Also, man kann schon herausbekommen, ob es sich um ein obskures "Institut" handelt oder nicht – aber darauf kommen Sie nur über konkretes Recherchieren. Diese Mühe muss man sich schon machen.

Nimmt das Problem vorgetäuschter Wissenschaftlichkeit eigentlich zu?

In der Tat sind Begriffe wie "postfaktisch" oder "fake news" seit einigen Monaten viel häufiger zu hören. Aber das Phänomen an sich ist nicht neu. Schon vor Hunderten von Jahren haben Leute aus Machtinteressen Meinungen und Daten manipuliert.

Ich finde, wir sind häufig viel zu pessimistisch. Es geht in der heutigen Zeit so vielen Menschen auf der Erde so gut wie nie zuvor. Vor hundert Jahren lag die Lebenserwartung im globalen Durchschnitt bei Anfang 30 – heute sind es, trotz aller weiter bestehender Probleme, durchschnittlich 60 Jahre! Und noch nie hatten so viele Menschen auf dem Planeten das Glück, so viel an Wissen und Informationen erlangen zu können wie heute. Dieses Glück sollten wir als solches empfinden – aber eine gehörige Portion Skepsis bewahren und Aussagen oder Personen genau prüfen.

Das Interview führte Toralf Staud