Alicja Knast hat Musikwissenschaften an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań studiert. Danach arbeitete und lehrte sie unter anderem an der London Metropolitan University, der University of Plymouth und am Metropolitan Museum in New York, bevor sie das Frederik-Chopin-Museum in Warschau aufbaute. Seit 2014 ist Knast Direktorin des Schlesischen Museums in Katowice, dessen Neubau auf dem Gelände einer ehemaligen Steinkohlezeche entstand.
Frau Direktorin, dass die jüngste UN-Klimakonferenz Ende 2018 im polnischen Katowice stattfand – dem Herzen des Oberschlesischen Kohlereviers –, hatte angesichts des Beitrags der Kohle zum Klimawandel eine besondere Symbolik. Tatsächlich tagten die Delegierten der COP24 Tür an Tür zum Muzeum Śląskie, dem Schlesischem Museum. Und dieses Museum hat sich der Geschichte und insbesondere dem Strukturwandel der Region verschrieben. Im Rückblick, was war das Signal des Klimagipfels an die Kohleregion Oberschlesien?
Ich persönlich bin sehr froh, dass die COP direkt neben unserem Museum stattfand. Die Menschen in der Region hatten allerdings keine konkreten Erwartungen an die Konferenz – und die Mehrheit der Polen insgesamt war sich der Bedeutung und der Themen der Konferenz sicherlich zu wenig bewusst. Leider hat Oberschlesien das Potenzial dieses internationalen Großereignisses kaum genutzt. Man hat die COP24 als eine Art Ufo betrachtet, dass hier einen Zwischenstop gemacht hat - und die lokalen Behörden haben den Leuten sogar empfohlen, währen der Konferenz lieber zu Hause zu bleiben.
Das hat dazu geführt, dass die Leute sich gefragt haben: Was hat diese Konferenz mit mir und meinem Leben zu tun? Und es gab niemanden, der auf diese Frage geantwortet hat. Im Vorfeld hat die Regierung die COP24 als Chance kommuniziert, um zu zeigen, was wir schon alles geleistet haben - aber ehrlicherweise haben wir beim Thema Umwelt und Klima eben noch einen weiten Weg zu gehen. Dies offen zuzugeben, hätte ein stimmigeres Bild ergeben. Und doch wird die Konferenz bleibende Effekte haben. Zum Beispiel werden lokale Gruppen aktiver werden, die sich für saubere Luft und gegen Klimawandel engagieren – ich hoffe, dass die COP24 für eine Art Wendepunkt steht, ab dem sich die Dinge stetig verändern.
Indirekt war die Kohle eines der zentralen Themen des UN-Klimagipfels. Welche Rolle spielt die Kohle für Ihr Museum?
Kohle ist ein zentraler Bezugspunkt, es ist der Rohstoff, das Material, aus dem diese Region erschaffen ist. Es ist ein Symbol der stetigen Veränderung und zugleich ein untrennbarer Teil der Identität der Region und ihrer Bewohner. Ja, man kann sagen: In dieser zwischen verschiedenen Staaten umkämpften Region haben die Menschen eher die Kohle zum Bezugspunkt ihrer Identität gewählt als ihre nationale Zugehörigkeit.
Anlässlich des UN-Klimagipfels Ende 2018 in Katowice lud das dortige Museum junge polnische Gegenwartskünstler ein, sich mit dem kohlegeprägten Leben in Oberschlesien auseinanderzusetzen. Hier die Fotografie "The Fog" von Michał Luczak; Quelle: Schlesisches Museum Katowice
2018 wurden drei Kohleminen in Oberschlesien stillgelegt, weitere werden folgen. Hunderte Familie sind von einem Prozess der Deindustrialisierung betroffen. Für sie hat die Kohle eine immense Bedeutung - sie bedeutete Einkommen und Wohlstand. Darüber hinaus schuf sie aber auch einen Bezugsrahmen für das Leben insgesamt, für die Freizeit, das menschliche Miteinander. Die Kohle war eine Art Synonym für soziale Gemeinschaft. Für ein Museum wie unseres ist es unabdingbar, dass wir uns damit auseinandersetzen - denn andernfalls können wir nicht verstehen und darstellen, wer wir sind.
Heißt das: Regionen, in denen ein Kohleausstieg ansteht, sollten sich erst einmal Museumsleute einladen?
Naja, Museen sind eine ziemlich kostspielige Angelegenheit. Aber ich würde auf jeden Fall sagen: Wer einen solchen Ausstiegsprozess angeht, sollte mit der Kultur beginnen. Und Künstlern zuhören!
Unser Ansatz ist simpel: Wir glorifizieren die Kohle nicht, wir kritisieren sie nicht - wir wollen zunächst einmal einfach nachvollziehen, was hier in der Vergangenheit geschehen ist. Wir wollen um der Zukunft willen aus der Vergangenheit der Region lernen. Nur Museen und andere öffentlich finanzierte Kultureinrichtungen sind so frei von politischen und wirtschaftlichen Interessen, dass sie eine authentische, offene Perspektive einnehmen können. Kulturinstitutionen wie unsere sind verpflichtet, immun gegenüber den Ansprüchen der Wirtschaft, der Politik und von Partikularinteressen zu sein – und deshalb schulden wir der Gesellschaft ein besonderes Maß an Ehrlichkeit, oder zumindest doch einen unverstellten Blickwinkel auf die Vergangenheit, damit sich die Menschen selbst ein Urteil bilden können.
Wenn man sich die Geschichte Oberschlesiens im 20. Jahrhundert ansieht - wie sie auch in Ihrem Museum dargestellt wird -, sieht man eine Geschichte der Zerstörung, der Brüche, des Völkermordes an den Juden, des Krieges, der Vertreibungen ….
… und in all dieser Gewalt, diesen Konflikten, diesen Wirren hat die Kohle die Sicherheit gegeben, die den Menschen fehlte. Diese Mischung, einerseits eine Grenzregion zu sein, andererseits aber eine mit vielen Bodenschätzen gesegnete Region - diese Kombination war wie Dynamit. Sie hat die Menschen besitzgierig gemacht, das Machtstreben angestachelt. Es gibt in Europa nicht viele Regionen, die so sehr Gegenstand geopolitischer Bestrebungen waren, und ohne die Kohle wäre es in Oberschlesien wesentlich ruhiger gewesen.
Nun sagt uns die Klimaforschung, dass wir aus der Nutzung fossiler Energieträger aussteigen müssen, wenn wir einen unkontrollierbaren Klimawandel verhindern wollen. Dies trifft auf Widerstände, und es geschieht nicht mit der Geschwindigkeit, in der es aus Sicht der Wissenschaft notwendig wäre. Was ist eigentlich die Rolle von Künstlern in der öffentlichen Debatte hierüber, und was könnten Künstler hierzu beitragen?
Wir entwickeln unsere Zivilisation, unser menschliches Potenzial nicht, um einander umzubringen, sondern um in Gemeinschaften zu leben. Wir entwickeln uns durch Koexistenz, Zusammenarbeit, Austausch. Doch wenn dies aus dem Blick und aus dem Gleichgewicht gerät, wenn einzelne gewinnen und andere verlieren, dann können Künstler uns auf derartige Fehlentwicklungen hinweisen. Sie schämen sich nicht, uns auf Dinge aufmerksam zu machen, die wir beschämend oder unangenehm finden. Und sie zögern nicht, unbequem gegenüber wirtschaftlichen oder politischen Interessen zu sein.
"Extraction" heißt diese Fotografie von Michał Luczak, die das Schlesische Museum anlässlich der COP24 zeigte; Quelle: Schlesisches Museum Katowice
Künstler zeigen uns auf, wo die Gesellschaft für den Einzelnen unerträglich wird. Und wenn dies, wenn der einzelne Mensch aus dem Blickfeld gerät, dann droht ein Systemkollaps. Dieser humanistische Blick ist Aufgabe der Kunst, darauf sollten wir immer wieder zurückkommen, auf das Individuum und sein Wohlergehen. Die Wirtschaft will uns zuweilen glauben machen, es gehe ihr genau darum, um die Gesellschaft und das Wohlergehen jedes Einzelnen - aber das ist falsch.
Wenn man sich die Konflikte ansieht, die rund um die Schließung von Zechen und Bergwerken entstehen – haben Kunst und Kultur dann eine Art psychotherapeutische Aufgabe in der Gesellschaft zu übernehmen?
Nun, es gibt schlicht keine andere Möglichkeit. Was sonst haben wir denn an Ressourcen? Die Kunst kann den Einzelnen ermutigen, sie kann dem Individuum vermitteln: Die Welt verändert sich, aber Du, Du kannst Dich auch verändern, und Du kannst Dich anpassen. Zum zweiten kann die Kunst Menschen zusammenbringen. Sie erschafft und formt die Identität des Einzelnen. Ohne sie bist du auf eine Weise innerlich hohl, ohne sie gibt es keinen Ort an den du dich wenden, von dem aus du dich mit anderen Augen und ohne eine Agenda betrachten kannst.
Unsere Welt bewegt sich extrem schnell. Früher haben wir versucht, uns in der Savanne zu orientieren, heute müssen wir einen Pfad in einer Welt der Medien zu finden – die uns manchmal auf Abwege führen. In dieser Situation fällt es zunehmend schwer zwischen wissenschaftlichem Wissen, ökonomisch motivierten Informationen und politisch gefärbten Inhalten zu unterscheiden. Und hier sind es wiederum kulturelle Einrichtungen, die Mechanismen bereitstellen können – keine fertigen Produkte, sondern Mechanismen -, um uns orientieren zu können. Und darauf kommt es an.
In ihrem Museum gibt es eine große Sammlung Naiver Malerei aus der Nachkriegszeit, die das Alltagsleben in Schlesien zeigt, und die Kohle spielt eine sehr große Rolle in diesen farbigen, häufig leuchtend strahlenden Gemälden. Im Gegensatz dazu haben Sie anlässlich der UN-Klimakonferenz junge polnische Gegenwartskünstler zusammengebracht, die einen ganz anderen Weg gehen und die das Leben in Oberschlesien in harschen, schroffen Fotografien, Videos und Installationen zeigen. Wie erklären sich diese Unterschiede?
Wenn man sich die Gemälde der Laienmaler aus der Nachkriegszeit ansieht, könnte der Eindruck entstehen, dass sie ihre Lebenswelt glorifizieren, denn sie zeigen nicht die Härten des täglichen Lebens, den Smog, die Trostlosigkeit des Alltags. Und glauben Sie mir, zu jener Zeit war die Situation zehn Mal schlimmer als heute. Klar, die Umweltsituation in Oberschlesien ist heute noch immer sehr schlecht - aber kein Vergleich zu der vor dreißig, ja sogar noch vor zehn Jahren.
Ein Beispiel aus der Sammlung Naiver Malerei aus der Nachkriegszeit, in der das damalige Alltagsleben in Oberschlesien verarbeitet wurde; Quelle: Schlesisches Museum Katowice
Die Unterschiede haben eher mit der künstlerischen Ausbildung zu tun. Stellen Sie sich die Region als ein Gebiet der extremen Ausbeutung der Ressourcen vor. Es gab hier niemanden, der gesagt hätte: Wir müssen den Menschen dieser Region eine höhere kulturelle oder künstlerische Bildung geben. Die Kunstakademie in Kattowitz beispielsweise wurde erst im Jahr 2001 eröffnet, vorher war das nur eine Zweigstelle der Akademie in Krakau. Für ein riesiges Gemeinwesen von fast fünf Millionen Menschen gab es also schlicht keinen Ort der Bildung und der Ausbildung in den Künsten. Die Zahl der Museen in Oberschlesien ist übrigens auch ein Indikator dieses Vermächtnisses: Pro 100.000 Einwohner gibt es nirgendwo in Polen so wenige Museen wie hier.
Die Veränderungen, denen unsere Region unterworfen ist, ist kaum je Gegenstand größerer Debatten. Schauen Sie sich die Hunderten von Familien an, die über Nacht ihr Leben umkrempeln mussten, weil der Familienvater seine Arbeit unter Tage verlor. Wenn sich also das gesamte Gefüge dieser Familien, dieser Gemeinschaften von Grund auf verändert – wer erzählt dann davon? Niemand, denn es ist nicht sexy, das zu tun - es verkauft sich nicht.
Menschen sprechen davon, wie sie die Verschmutzung erleben, die schlechte Luft, sie sprechen von Krankheiten und wie sie sich unwohl fühlen – aber das sind physische Dinge. Worüber man nicht spricht, ist das Seelische. Darüber, wie schwer es ist, die Stimmung aufrechtzuerhalten. All dies heute zu thematisieren, ist die Aufgabe von Künstlern. Und es ist ganz entscheidend, dass jemand das ohne jeden weiteren Hintersinn tut.
Das Interview führte Carel Mohn
Porträtfoto von Alicja Knast: Witalis Szołtys