Oliver Geden ist Sozialwissenschaftler und leitet die Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin und ist derzeit Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Meteorologie sowie dem Centrum für Globalisierung und Governance der Universität Hamburg. Er ist zudem einer der Leitautoren des für 2021 angekündigten Sechsten IPCC-Sachstandsbericht zur Klimaforschung.
Die Klimapolitik erlebte im September 2017 eine Überraschung: Eine Studie von Richard Millar und (prominenten) Forscherkollegen im Fachjournal Nature Geoscience bezifferte die Menge jener Treibhausgas-Emissionen, die bis zum Überschreiten der Grenze von 1,5 Grad Erwärmung wahrscheinlich noch ausgestoßen werden darf, um etwa 500 Gigatonnen CO2 höher als zuvor. Bislang war man auf Basis des Fünften Sachstandsberichts des Weltklimarats IPCC davon ausgegangen, dass das CO2-Budget für 1,5 °C bereits um 2020 herum ausgeschöpft sein würde. Auf der Basis der Millar-Studie würde sich dieser Zeitpunkt bei gleichbleibenden Emissionen um knapp 15 Jahre nach hinten verschieben.
Klingt zu schön, um wahr zu sein? Vielleicht. Die Studie von Millar und Kollegen ist in der Fachwelt durchaus umstritten. Dennoch ist davon auszugehen, dass der IPCC in seinem kommenden Sonderbericht zum 1,5-Grad-Ziel nach Zusammenschau aller verfügbarer Studien (und eben auch jener von Millar et al.) ein erheblich erweitertes CO2-Budget nennen wird. Ab Anfang Oktober, rechtzeitig vor dem UN-Klimagipfel in Katowice, würde die Menschheit dann "offiziell" über ein größeres Emissionsbudget verfügen – und zwar nicht nur für das 1,5-Grad-Limit, sondern indirekt auch für eine Begrenzung der Erderwärmung auf unter 2 °C.
Irgendwie ist es beim Klimaschutz immer "5 vor 12"
Wie wird die internationale Klimapolitik damit umgehen? Wird sie, wie von Millar und Kollegen erhofft, die Chance ergreifen, das bislang aussichtslos erscheinende 1,5-Grad-Ziel doch noch ernsthaft zu verfolgen? Oder wird sie die Zügel eher locker lassen, weil ja nun scheinbar mehr Zeit für ehrgeizige Emissionsminderungen bleibt, zumal wenn man sich – wie in Industriestaaten üblich – primär am Zwei-Grad-Ziel orientiert?
Wenn man sich ansieht, wie Klimapolitik in den vergangenen 25 Jahren funktioniert hat, ist letzteres weitaus wahrscheinlicher.
Wer die bisherige Klimapolitik verfolgt hat, dem dürfte aufgefallen sein, dass es quasi immer "5 vor 12" ist. Umweltverbände, Forschung und Klimapolitiker mahnen unisono, dass es schon bald zu spät sein könne, uns die Zeit davonlaufe, wir es aber immer noch schaffen könnten, wenn wir sofort entschlossen handelten und so weiter. Entschlossen wird dann allerdings nur geredet, manchmal auch entschieden, selten aber gehandelt. Die weltweiten Treibhausgas-Emissionen sind seit Verabschiedung der Klimarahmenkonvention auf dem Erdgipfel in Rio 1992 fast kontinuierlich gestiegen. Wie kann es dann aber immer noch "5 vor 12" sein?
Das geht nur, weil sich beständig die Kriterien für die Erreichbarkeit von Klimazielen ändern. In den Szenarienberechnungen ist über die Jahre der "letztmögliche" Scheitelpunkt globaler Emissionen deutlich nach hinten gerückt, danach fällt die Kurve steiler ab und geht inzwischen tief unter die Null-Linie. Klimaökonomische Modelle rechnen also seit einiger Zeit sogar mit sogenannten "negativen Emissionen", also dem Konzept, dass irgendwann in der Zukunft der Atmosphäre wieder Treibhausgase entzogen werden können. Die Technologien hierfür sind zwar noch kaum ausgereift, nicht zuletzt, weil die Politik sich in diesem Bereich kaum engagiert. Aber sie ermöglichen es (zumindest in der Theorie), das 2-Grad- und erst recht 1,5-Grad-Limit als irgendwie doch noch erreichbar zu bezeichnen. Mittlerweile gilt sogar ein zwischenzeitliches "Überschießen" der 1,5-Grad-Grenze als erlaubt, ohne dass jemand bislang definiert hätte, bis wann die Temperaturkurve dann wieder unter dem angestrebten Niveau sein müsste, damit das Limit noch als eingehalten angesehen werden kann.
Je später der "letztmögliche" Scheitelpunkt der CO2-Emissionen liegt, desto steiler muss hinterher die Linie abfallen, und desto tiefer muss sie in den Bereich der "negativen Emissionen" eintauchen, damit das 1,5-Grad- oder auch das 2-Grad-Ziel als "noch erreichbar" gelten kann. Die animierte Grafik zeigt verschiedene Szenarien des IPCC sowie aus aktuellen Forschungspublikationen, etwa Rogelj et al. 2018, mit vier verschiedenen Startpunkten für strengen Klimaschutz; Grafik: Glen Peters
Es ist aber keineswegs so, dass Klimapolitiker sich mit solchen Details von Szenarien und Computermodellen beschäftigen oder gar die Klimaforschung auffordern würden, lockerere Kriterien anzulegen. Das übernehmen überraschenderweise manche Forscher selbst, nicht zuletzt damit sich trotz mangelhaftem Klimaschutz keine allgemeine Resignation breitmacht. Politik, Medien und Öffentlichkeit hingegen haben sich inzwischen daran gewöhnt, dass es in Sachen Klimaschutz irgendwie immer "5 vor 12" ist.
Je längerfristig ein Klimaziel, desto besser funktioniert die "als ob"-Politik
An dieser Konstellation wird die Klimaforschung etwas ändern müssen, und das wird sie nur schaffen, wenn sie sich klar macht, wie Politik im Kern funktioniert. Im Grunde hoffen Forscher seit 25 Jahren, dass ein verbessertes Verständnis des Problems zu besseren politischen Entscheidungen und schließlich zu entschlossenem Handeln und der Lösung des Problems führt. Doch diese Konsistenzerwartung führt in die Irre. Inkonsistenz von Reden, Entscheiden und Handeln ist in der Politik völlig üblich. Es ermöglicht großen Organisationen, die (in der Summe inkonsistenten) Erwartungen möglichst vieler Teile der Gesellschaft unter einen Hut zu bekommen. Trotzdem stehen alle politischen Akteure unter dem Druck, der Konsistenznorm Genüge zu tun. Aber das führt meist nicht dazu, dass sie so agieren, dass Reden, Entscheiden und Handeln wirklich zusammenpassen. Es genügt oft, einfach so zu tun "als ob" – und das funktioniert am besten mit sehr langfristigen Klimazielen, bei deren Umsetzung man viel Zeit hat.
Das bedeutet nun nicht, dass Regierungen gleichgültig auf die Klimakatastrophe zusteuern würden. Aber sie haben eben doch ein sehr komplexes Set an Erfolgskriterien zu berücksichtigen. Politische Organisationen sind auf externe Unterstützung und Legitimation angewiesen. Politiker und Parteien müssen sich in Wahlen beweisen, und ohne "konkurrenzpolitische" Erfolge haben sie keine Chance, ihre "problempolitischen" Vorstellungen jemals umzusetzen. Das wird Politikern und Parteien aber in der Regel nur gelingen, wenn ihnen "Problemlösungskompetenz" zugeschrieben wird – was nicht das gleiche ist, wie Probleme tatsächlich zu lösen.
In der internationalen Klimapolitik gibt es für aktive Politiker im Grunde nicht viel zu gewinnen. Die "Verhinderung gefährlichen Klimawandels" – das Ziel der UN-Klimarahmenkonvention – wird die heutige Generation nicht erreichen können. Sie muss allerdings mit dem Risiko leben, dass die Klimaforschung verkündet, das Ziel sei schon jetzt nicht mehr zu erreichen. Insofern ist eine Erweiterung des verbleibenden Emissionsbudgets klimapolitisch von hoher Bedeutung, vermindert sie doch die Wahrscheinlichkeit eines baldigen, offensichtlichen Misserfolgs. Aber leider bedient sie – selbst wenn sie naturwissenschaftlich gerechtfertigt sein sollte – eine problematische Anreizstruktur. Solange Ziele wie 1,5 oder 2 Grad wissenschaftlich noch als "machbar" gelten, ist schon das für die Politik ein großer Erfolg.
Eine leicht geänderte Formulierung für den IPCC – mit großer Wirkung
Klimapolitikberater werden an den politischen Spielregeln wenig ändern können, aber sie müssen sie mitbedenken, wenn sie wirksamer kommunizieren wollen. Folgendes Gedankenexperiment macht dies deutlich: Wie wäre es, wenn der IPCC in Vorbereitung seines Sechsten Sachstandsberichts, der 2021 erscheinen soll, realistischere Kriterien für die Machbarkeit von Klimazielen anlegen und seine Erkenntnisse in einer nur unwesentlich veränderten Form kommunizieren würde? Wenn er nicht mehr wie bislang üblich sagt: "Ja, das 1,5-Grad-Ziel ist noch machbar, wenn A, B und C umgesetzt werden." Sondern wenn stattdessen die Kernbotschaft wäre: "Nein, derzeit ist ein Erreichen des 1,5-Grad-Ziels nicht plausibel, es sei denn, die Regierungen setzen A, B und C um."
Im ersten Beispiel wird die Politik (wie bisher) froh sein, dass ihr wieder einmal der Machbarkeits-Pokal ausgehändigt wird. Aber im Nachhinein A, B und C zu liefern, ist aller Erfahrung nach nicht nötig, um die Trophäe behalten zu dürfen. Im zweiten Beispiel bliebe der Pokal erstmal in der Vitrine - aber die Wissenschaft hätte klare Kriterien benannt, was getan werden muss, um ihn doch noch ausgehändigt zu bekommen.
Die Drohung des Scheiterns ernsthafter auszusprechen, hätte einen entscheidenden Vorteil: Die Wissenschaft fände einen Ausstieg aus dem Dilemma, die Uhr ständig auf 5 vor 12 zu stellen. Und der Druck lastete fortan auf den Regierungen – wo er auch hingehört. Dies garantiert selbstverständlich nicht, dass die Politik so handelt, wie es den von ihr selbst gesetzten Zielen entspräche. Doch immerhin würden wir herausfinden, wie ernst es den Regierungen tatsächlich ist. Eine "politisch informierte" wissenschaftliche Beratung kann erfolgreich darin sein, den Hang der Klimapolitik zur Inkonsistenz wenigstens einzuhegen. Dazu wird sie die Faktenlage in einer Weise präsentieren müssen, die es der Politik schwerer macht, den praktischen Konsequenzen des von ihr bereits akzeptierten Klimawissens noch länger auszuweichen.
Der Text basiert auf einem Kommentar im Fachjournal Nature Geoscience