Wer sich mit der Klimakrise und ihren Auswirkungen befasst, kommt an den Berichten des Weltklimarats IPCC nicht vorbei. Sie fassen regelmäßig den gesicherten Stand der Forschung zusammen, kommende Woche erscheint wieder einmal ein Band dieser Mammutwerke. Thomas Stocker hat viel dazu beigetragen, dass die Reports in einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen werden – und verstanden.
Stocker ist Paläoklimatologe und Modellierer, ein Mann der Zahlen, Daten und physikalischen Modelle. Helga Kromp-Kolb ist Meteorologin, Naturwissenschaftlerin auch sie. Wie Stocker hat sie ihre berufliche Laufbahn der Arbeit zum Klimawandel gewidmet. Selbst Jahre nach ihrer Emeritierung ist sie noch aktiv. Doch darin, wie sie sich konkret mit dem Klimawandel beschäftigen, unterscheiden sich beide sehr.
Stocker ist vor allem daran gelegen, den wissenschaftlichen Kenntnisstand zu verbessern – zum Beispiel über Kipppunkte im Klimasystem, und die neuen Erkenntnisse dann in die Öffentlichkeit zu tragen. Während dieser Text entsteht, befindet er sich auf Forschungsreise in der Antarktis. Kromp-Kolb hingegen kämpft dafür, dass sich die Menschheit besser gegen unvorhersehbare Risiken der Erderhitzung schützt. Dabei, sagt sie, geht es nicht nur um naturwissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Innovationen: Gesellschaftliche Veränderungen sind aus ihrer Sicht zentral.
"Wissenschaftliche Fakten sind die Grundlage für rationales Entscheiden, sowohl in der Coronakrise wie in der Klimakrise. Aber sie allein genügen nicht, Menschen zum Handeln zu überzeugen - es müssen auch unsere Sinne angesprochen werden. Bilder, Töne und Emotionen vermitteln, was für uns Menschen und für alles Leben auf dem Land und im Meer auf dem Spiel steht, wenn die Klimaerhitzung ungebremst fortschreitet. Klimaschutz unterscheidet sich nicht vom Schutz anderer Güter und Werte, die uns teuer sind: sauberes Wasser, saubere Luft, sicheres Zusammenleben. Dazu genügt Eigenverantwortung nicht, sondern es braucht Regeln und Verbote für einen wirksamen Schutz des Klimas und zur Sicherung der Ressourcen für die kommenden Generationen."
Prof. Dr. Thomas Stocker (Jahrgang 1959) studierte Umweltphysik an der ETH Zürich (Promotion 1987). Seit 1993 ist er Professor am Physikalischen Institut der Universität Bern und Leiter der Abteilung für Klima- und Umweltphysik, von 2008 bis 2015 war er zudem Ko-Vorsitzender der Arbeitsgruppe I des IPCC. Die Aufnahme zeigt ihn im Oktober 2021 in seinem Arbeitszimmer in Bern, hier entstand auch ein Teil des 5. Sachstandsberichts des IPCC, der 2015 eine Grundlage des Pariser Klimaabkommen wurde; Foto: Dr. Andreas Pohlmann 714
Er schaut auf Zahlen und Modelle. Sie befasst sich mit den gesellschaftlichen Bedingungen, die Klimaschutz möglich machen – oder eben nicht. Er ist Schweizer, sie Österreicherin; er 62 Jahre alt, sie 73. Er formuliert zurückhaltend und dennoch deutlich. Sie kann sehr drastisch werden. Und doch verfolgen Stocker und Kromp-Kolb das gleiche Ziel: Beide wollen sie ein stärkeres Bewusstsein dafür schaffen, wie weit die Klimakrise schon fortgeschritten ist – und wie dringend der Handlungsbedarf.
Stocker leitet die Abteilung für Klima- und Umweltphysik am Physikalischen Institut der Universität Bern. Er und sein Team haben die Konzentrationen von CO2, dem wichtigsten Treibhausgas neben Wasserdampf, über die letzten 800.000 Jahre gemessen. „Das ist ein Weltrekord“, sagt Stocker. Aus diesen Veränderungen über acht aufeinanderfolgende Eiszeiten hinweg ziehen sie mit Hilfe von Klimamodellen, die das Team entwickelt hat, Rückschlüsse auf das mögliche Klima der Zukunft.
Als Thomas Stocker von 2008 bis 2015 Co-Chef der IPCC-Arbeitsgruppe I war, wurden erstmals sogenannte Headline-Statements formuliert. »Sie waren so einfach, dass sie eins zu eins von den Medien übernommen wurden. Weltweit. Das hatte ich vorher noch nie erlebt«, erinnert sich Stocker
Thomas Stocker betrachtet die weit zurückreichende Rekonstruktion der CO2-Historie und die Klimamodelle als „die beiden wirklichen Highlights“ seiner Arbeit. Daneben nennt Stocker aber noch einen weiteren Höhepunkt – und der hat mit der Beurteilung des Wissensstands über den Klimawandel im Auftrag der Vereinten Nationen zu tun: Er hat in leitender Funktion im Weltklimarat IPCC mitgearbeitet und die komplexen Ergebnisse auf verschiedensten Ebenen international kommuniziert.
Von 1998 an war Stocker an verschiedenen IPCC-Berichten beteiligt; von 2008 bis 2015 leitete er die Arbeitsgruppe I, die sich mit den wissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels befasst. Ihre Arbeit floss in den Fünften Sachstandsbericht des IPCC ein, der 2013 und 2014 erschien. Er wurde zur Grundlage des Pariser Klimaabkommens.
Helga Kromp-Kolb sagt, sie sei „sehr dankbar für Menschen wie Thomas Stocker, die die Basis für meine Arbeit schaffen“. Während Stocker Daten erfasst, aufbereitet, das Klima modelliert und sich Gedanken um eine möglichst präzise Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse macht, geht sie noch einen Schritt weiter. Ihr Ziel ist es, die Menschen gegen die Klimakrise in Bewegung zu bringen.
»Die Wissenschaft ist nicht verantwortlich dafür, dass sich etwas bewegt. Aber sie muss ihre Erkenntnisse wirklich verstanden machen. Und das haben wir noch nicht erreicht«
Helga Kromp-Kolb
Eine Wirkung zu erzeugen, sagt sie, sei das Wesentliche an ihrer Arbeit. Nicht so sehr: möglichst viele Menschen zu erreichen. Sondern: „Ist unter diesen Menschen einer, oder sind da vielleicht sogar zwei oder zehn, die selbst aktiv werden?“ Damit es tatsächlich gelingen könne, „die – ja, das sind große Worte – die Zivilisation zu retten.“
Als Umweltmeteorologin beschäftigte sich Kromp-Kolb ursprünglich mit der Frage, wie Schadstoffe oder nukleare Strahlung sich in der Umwelt ausbreiten; zur Klimaforschung kam sie später. Seit 2017 ist sie emeritiert; zuvor arbeitete sie mehr als zwanzig Jahre lang als Professorin und Leiterin des Zentrums für Globalen Wandel und Nachhaltigkeit an der Universität für Bodenkultur in Wien. Sie ist immer noch aktiv, hält Vorträge, gibt Interviews. Die Arbeit, sagt sie, sei noch nicht erledigt.
Für dieses Porträt haben Thomas Stocker und Helga Kromp-Kolb sich per Video virtuell getroffen.
Frau Kromp-Kolb, Herr Stocker, ist es die Aufgabe der Wissenschaft, dafür zu sorgen, dass ihre Erkenntnisse tatsächlich zu Veränderungen führen?
Kromp-Kolb: Die Wissenschaft ist nicht verantwortlich dafür, dass sich etwas bewegt. Aber sie muss ihre Erkenntnisse wirklich verstanden machen. Und das haben wir noch nicht erreicht. Weil es bei vielen Menschen sehr stark auch um Verdrängung geht, um nicht wissen wollen. Wir verstehen noch nicht gut genug, woher diese Widerstände kommen, weil wir meist ein viel zu mechanistisches Bild vom Menschen haben. Zwar gibt es psychologische und soziologische Theorien dazu, und vieles davon ist sicher zutreffend. Aber wie wir diese Kenntnisse einsetzen können, sollen oder dürfen, um die Zivilisation zu retten, darüber wird kaum diskutiert.
Stocker: Wenn wissenschaftliche Kommunikation nicht verständlich ist, oder nicht glaubwürdig, ist sie für allfällige gesellschaftliche Veränderungen auch nicht nützlich. Deshalb ist für mich Glaubwürdigkeit das oberste Gut. Ohne sie kann ich nicht kommunizieren. In der letzten Zeit gebrauche ich praktisch ausschließlich den Begriff der Klimakrise oder Klimaerhitzung – statt wie früher von Klimawandel oder Erderwärmung zu sprechen. Das rüttelt auf. Wir sehen heute ja ein völlig anderes Klimasystem als noch vor 30 Jahren, da muss sich auch unser Vokabular verändern.
Kromp-Kolb: Wenn zum Beispiel unser ehemaliger Bundeskanzler Sebastian Kurz sagt, dass es ausreichen werde, Klimapolitik mit technologischen Mitteln und Innovationen zu betreiben, und wenn er so tut, als sei es nicht notwendig, unseren Lebensstil zu ändern – dann muss ich verstehen, warum er das sagt. Sonst wird es nicht funktionieren. Sonst verlieren wir zu viel Zeit.
Stocker: Ich sage auch: Ohne Innovation geht es nicht. Aber es geht auch nicht, ohne die Konsumzyklen zu brechen, die wir in den letzten 30 Jahren immer stärker befeuert haben. Ich denke, da können wir jetzt wirklich Klartext reden, ohne die Integrität der Wissenschaft aufs Spiel zu setzen.
Kurz nachdem Stocker den Co-Vorsitz der Arbeitsgruppe I des IPCC übernommen hatte, geriet das Gremium in eine schwierige Zeit. Im November 2009 stahlen Hacker E-Mails von Klimaforschenden von Servern der britischen University of East Anglia, stellten selektiv zitierte Passagen ins Internet, um vermeintliche Belege für Forschungsmanipulationen zu erbringen, und für den Mythos, dass die Erde sich gar nicht erhitze. Dies geschah direkt vor dem Klimagipfel in Kopenhagen, auf dem eigentlich ein ambitionierter Weltklimavertrag verabschiedet werden sollte – was dann aber nicht gelang, wohl auch, weil die Aktion das öffentliche Vertrauen in die Ergebnisse der Klimaforschung kurzzeitig erschütterte.
Zwar wurden die betroffenen Forscher später von allen Betrugsvorwürfen freigesprochen, aber der Ruf der Klimawissenschaften war angekratzt. Hinzu kamen vereinzelte Fehler im Vierten Sachstandsbericht des IPCC, der 2007 veröffentlicht worden war. Stocker und seine Kolleg:innen aus der IPCC-Arbeitsgruppe I mussten reagieren. Das taten sie unter anderem, indem sie penible Vorschriften für den internen und externen Umgang mit Fehlern entwickelten und eine Kommunikationsstrategie für die Veröffentlichung ihres eigenen, des Fünften Sachstandsberichts entwarfen.
Seit 2015 porträtiert der Kunsthistoriker und Fotograf Dr. Andreas Pohlmann aus Bergheim bei Köln Klimaforscherinnen und Klimaforscher. "Jedes Bild zeigt eine individuelle Persönlichkeit in einer Landschaft oder einem Raum, der mittelbar oder unmittelbar auf die jeweilige Forschungsarbeit verweist", erklärt er die Idee. "Wesentlicher künstlerischer Ansatz ist, die Person weder in einer Gelehrten-Pose zu präsentieren noch in einer theatralisch-emotionalen Situation zu entblößen. Gezeigt wird der ganze Mensch, in seiner Haltung und Kommunikationsbereitschaft auf Augenhöhe mit dem Betrachter."
Im Rahmen des Projekts entstehen großformatige Panoramabilder (60 mal 120 cm). Jede der dargestellten Persönlichkeiten erhält die Möglichkeit zu einem kurzen, das Bild begleitenden Statement. "So erhält die weitgehend unbekannte Gruppe der Klimaforscher:nnen einerseits ein Gesicht", sagt Pohlmann. "Andererseits nehmen sie auch Haltung an, stehen für sich und ihre Lebensleistung ein. Der Betrachter hat die Möglichkeit, – immer auf Augenhöhe – Kontakt mit einem Personenkreis aufzunehmen, der von 'Klimaleugnern' im hohen Maße als wissenschaftlich unredlich und politisch verschwörerisch denunziert wird."
Insgesamt 80 Panoramaporträts sollen im Rahmen des Projekts bis 2022 entstehen. Acht davon drucken wir begleitend zu unserer Serie über Klimaforscher:innen und wie sie kommunizieren. Einen eigenen Text über das Fotoprojekt finden Sie hier.
Als der am Ende ihrer siebenjährigen Arbeitszeit erschien, formulierten sie sogenannte Headline-Statements, „sehr einfache Aussagen“, erinnert sich Stocker. „Zum Beispiel: ‚Die Erwärmung ist eindeutig.‘ Oder: ‚Der Einfluss der Menschen auf das Klimasystem ist klar.‘“ So kurze, simple Aussagen aus dem Munde der Wissenschaft – das sei damals ein Novum gewesen.
Die Formulierungen zu finden, ohne die wissenschaftliche Präzision aufzugeben, war harte Arbeit – aber es funktionierte. Im üblichen IPCC-Prozess begutachten und kommentieren Regierungsvertreter aus mehr als 190 Staaten die Zusammenfassung des Berichts, das sogenannte Summary for Policymakers (SPM). Textänderungen sind nur mit Zustimmung der beteiligten Forscher:innen und im Einklang mit dem gesicherten Stand der Wissenschaft möglich. Am Ende wird alles im Konsens verabschiedet – 2013 erstmals auch die allgemeinverständlichen Headline-Statements.
„Dadurch wurden sie quasi auf eine höhere Ebene gehoben“, sagt Stocker. „Man kann jetzt sagen: Das ist eine Aussage, hinter der fast 200 Länder stehen. Ich denke, die Headline-Statements sind wahrscheinlich einer der wichtigsten Beiträge zur Kommunikation in diesem Kanal. Sie waren so einfach, dass sie direkt, eins zu eins, auch von den Medien übernommen wurden. Weltweit. Das hatte ich vorher noch nie so erlebt.“
Neu im Teilbericht von Stockers Arbeitsgruppe I war auch das Konzept eines Treibhausgasbudgets. Es kondensiert komplizierte geophysikalische Zusammenhänge zu einem einprägsamen Sprachbild. Bekanntlich ist vor allem das Treibhausgas Kohlendioxid sehr langlebig, die menschengemachten Emissionen sammeln sich deshalb über Jahrhunderte in der Atmosphäre an. Außerdem hängt ihre Konzentration in der Lufthülle der Erde nahezu linear mit dem Ausmaß der Erderhitzung zusammen. Zusammengenommen bedeutet dies, dass sich ziemlich genau das „Budget“ von Treibhausgasen beziffern lässt, das die Menschheit noch „ausgeben“ kann, bevor die Erdmitteltemperatur die Schwelle von 1,5 oder auch 2 Grad Celsius überschreiten wird.
»Klar, ohne Innovation geht Klimaschutz nicht. Aber es geht auch nicht, ohne die Konsumzyklen zu brechen, die wir in den letzten 30 Jahren immer stärker befeuert haben. Ich denke, da können wir jetzt wirklich Klartext reden, ohne die Integrität der Wissenschaft aufs Spiel zu setzen«
Thomas Stocker
Dafür, dass das Budget im Text blieb, mussten sie kämpfen, erinnert sich Stocker. Immer und immer wieder erklärten die Wissenschaftler:innen den Forschungsstand. „Bis nachts um zwei als letztes Land auch China zustimmte.“
Das noch zur Verfügung stehende Budget, findet er, ist ein gutes Bild für die Dringlichkeit der Krise. Denn es zeigt: „Klimaziele können verloren gehen, wenn die Emissionen nicht sinken. Alle zehn Jahre verlieren wir ein halbes Grad. Und irgendwann schließt sich die Tür. Dann gibt es keine Möglichkeit mehr, hindurchzugehen.“ Das Zwei-Grad-Ziel sei heute ein so ehrgeiziges Unterfangen wie es das 1,5-Grad-Ziel vor zehn Jahren gewesen sei, sagt Stocker. „Leider ist die Erkenntnis noch nicht überall angekommen.“
Stocker spricht von einer Tür, die sich schließt – Kromp-Kolb sagt: Irgendwann könnten die für die Menschen lebenserhaltenden Systeme des Planeten kollabieren. „Ohne Einhaltung der planetaren Grenzen gibt es uns früher oder später nicht mehr. Und wie nahe wir dem Kollaps schon sind, werden wir erst merken, wenn er sich bereits manifestiert.“ Also: Wenn es zu spät ist.
Frau Kromp-Kolb, Herr Stocker, wie sehr sollten Wissenschaftler:innen in der Klimakommunikation unabsehbare Risiken wie die Möglichkeit eines Kollaps‘ der menschlichen Zivilisation betonen?
Stocker: Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Gehe ich mit dem, was wir im Fünften Zustandsbericht zur Verfügung hatten, so weit, zu sagen: Die Menschheit wird es nicht überleben, wenn die Klimakrise nicht gestoppt wird? Bin ich in der Lage, das zu machen? Ich glaube nicht.
Kromp-Kolb: Ich glaube auch nicht, dass man das definitiv sagen kann. Aber ich glaube, man kann schon sagen: Es ist wissenschaftlich unmöglich zu zeigen, dass die Gefahr nicht besteht. Wir dürfen uns jedenfalls nicht in falsch verstandener Sicherheit wiegen.
klimafakten.de: Die Frage ist also, ob man vor großen Risiken nicht auch warnen sollte, wenn sie mit einer geringen Wahrscheinlichkeit eintreten können? Oder wenn man die Wahrscheinlichkeit noch gar nicht gut einschätzen kann?
Stocker: Absolut. Deshalb setze mich im IPCC gerade für einen Sonderbericht über Kipppunkte ein – also über die sogenannten high impacts, low likelihood events. Er würde die Forschung befeuern, die Wissenschaft zwingen, Konsensaussagen zu finden, mit Mythen aufzuräumen – und mit dringlicheren Botschaften zu kommen, falls die Forschung sie hergibt. Denn würden die Kipppunkte tatsächlich irgendwann überschritten, wäre das eine große Gefahr für die planetaren Ökosysteme, unsere Ressourcen, eigentlich unsere ganzen Lebensgrundlagen.
Kromp-Kolb: Einen Sonderbericht zu Kipppunkten fände ich sehr begrüßenswert. Ich meinte aber etwas anderes: Es gilt in der Wissenschaft und auch an den Universitäten als wesentlich weniger beschämend, wenn eine Katastrophe nicht vorhergesagt wurde, als wenn eine vorausgesagte Katastrophe nicht eingetreten ist.
Stocker: Das stimmt, ja.
Kromp-Kolb: Und das führt oft zu einer falschen Zurückhaltung. Natürlich sollte man nie die Katastrophe quasi an die Wand malen, indem man sagt, sie wird passieren. Aber ich halte es für sehr wichtig, dass man sie immer wieder als Möglichkeit in den Raum stellt. Extremszenarien zu betrachten und sich auf sie vorzubereiten, selbst wenn ihr Eintritt nicht sehr wahrscheinlich ist, gebietet schon das Vorsorgeprinzip.
Und wenn man aufgrund mangelnder Daten beispielsweise keine Aussage darüber treffen kann, ob Wetterextreme in einer bestimmten, kleinräumigen Region zunehmen – dann darf man als Wetterdienst nicht sagen: Hier ist keine Zunahme zu beobachten. Sondern man muss sagen: Wir können dazu nichts sagen, weil wir es nicht beobachten, noch nicht durch Beobachtungsdaten belegen können. Nicht? Und leider wird eben sehr oft das andere gesagt, und dadurch suggeriert man, dass es auch keine Zunahme von Wetterextremen gibt.
Kromp-Kolb scheut vor drastischen Worten nicht zurück, um ihre Botschaft zu vermitteln. Im Jahr 2019 erregte sie durch ein Interview mit der Kronen-Zeitung Aufsehen, dem mit Abstand größten und einflussreichsten Boulevardblatt Österreichs. Auf die Frage, ob man noch fliegen dürfe, antwortete sie: „Man sollte es sich gut überlegen, ob es wirklich notwendig ist. Denn so wie wir unsere Eltern gefragt haben: Wie war das im Nationalsozialismus? Was hast du gewusst? Was hast du getan? Genauso werden uns einmal unsere Kinder und Enkel fragen: Wie war das beim Klima? Was hast du gewusst? Was hast du getan? Wenn ich dann antworte: Ich bin trotzdem auf Shoppingtour nach London geflogen, wäre das keine schöne Antwort.“
Sie sage das „als jemand, dessen Eltern im Widerstand waren“, sagt sie heute dazu. Kromp-Kolb ist die Tochter des Reformpädagogen und späteren Diplomaten Fritz Kolb, der zuerst den Austrofaschismus und nach dem „Anschluss“ Österreichs den Nationalsozialismus bekämpfte. Als deutscher Staatsbürger wurde er später in Indien von den Briten interniert, in Indien erlebte er auch das Ende des Zweiten Weltkriegs. Erst 1948 kehrten Fritz Kolb und seine Frau Martha nach Wien zurück. Das Wiedersehen mit den alten Freunden in den Jahren danach sei „ein ganz starkes Reminiszieren“ gewesen, erinnert sich Kromp-Kolb. „Was hast Du gemacht, und was hab‘ ich gemacht, und wer hat überlebt, wer nicht, und warum? Das ist mir immer noch sehr präsent.“
"Der Mensch ist Teil der Natur – diese durch Klimawandel und Artensterben zu zerstören, ist selbstmörderisch. Wer das einmal verinnerlicht hat, versteht, dass es jetzt darum geht, durch Umdenken die notwendigen Veränderungen in der noch verbleibenden Zeit möglich zu machen. Die Wissenschaft — Naturwissenschaft und Technik ebenso wie Wirtschafts- und Finanzwissenschaft — hat viel zur Förderung des Raubbaus an der Natur beigetragen. Jetzt muss sie vorangehen und disziplinübergreifend mit neuen Ansätzen und neuen Methoden Platz schaffen für ein neues Denken. Sie ist aufgerufen, ihre Verantwortung in der Klima- und Biodiversitätskrise wahrzunehmen und die Bedrohung in eine Chance zu verwandeln, die Weichen zu einem guten Leben für alle innerhalb der ökologischen Grenzen zu stellen. Das erfordert Mut zur Veränderung und Engagement, und die Zeit drängt."
Prof. Dr. Helga Kromp-Kolb (Jahrgang 1948) studierte Meteorologie an der Universität Wien (Promotion 1971), habilitierte sich 1982 im Spezialbereich der Umweltmeteorologie und war 1985/86 als Associate Professor an der San José State University, California, USA, tätig. Seit 1995 hatte sie eine ordentliche Professur an der Universität für Bodenkultur (BOKU, Wien) inne und leitete dort das Zentrum für Globalen Wandel und Nachhaltigkeit. Auch nach ihrer Emeritierung ist sie als Aufklärerin, Beraterin und Mahnerin für den Klimaschutz in Öffentlichkeit und Medien präsent. Sie ist Trägerin mehrerer Auszeichnungen und in vielen Gremien und Beiräten aktiv. Die Aufnahme entstand im Juli 2021 an einem künstlichen Wasserfall im Wiener Türkenschanzpark (1888 eröffnet); Foto: Dr. Andreas Pohlmann 714
Jede Zeit habe ihre eigene Verantwortung, sagt sie heute zu ihrem Krone-Interview. „Ich vergleiche nicht den Holocaust mit irgendetwas anderem, auch nicht mit der Klimakrise. Was ich vergleiche: die Verantwortung der Menschen, die damals gelebt haben, mit der Verantwortung der heutigen Menschen. Mir geht es darum, dass jede Generation ihre eigene Verantwortung hat. Die Verantwortung der heutigen Generation ist es meines Erachtens, den Klimawandel zu bekämpfen, Klimaschutz zu betreiben und nachhaltig zu leben.“
Was Nachhaltigkeit für sie bedeutet? Ein gutes Leben für alle innerhalb der planetaren Grenzen zu erreichen, sagt Kromp-Kolb. Soziales und Ökologisches zu vereinen. Die Wirtschaft sieht sie dabei nur als Werkzeug. Wirtschaftswachstum hält sie nur dann für sinnvoll, wenn es als Mittel zum Zweck dienen kann. „Wenn Wachstum nicht zu einem guten Leben beiträgt, dann soll es eben kein Wachstum geben.“
Herr Stocker, Frau Kromp-Kolb spricht davon, Widerstände zu verstehen, um sie zu überwinden. Wie sehen Sie das?
Stocker: Seien wir ehrlich: Am Ende des Tages geht es doch immer nur ums Geld. Das haben wir in der Schweiz beim Referendum um das CO2-Gesetz leider ganz deutlich gesehen. Zwei Monate vor der Abstimmung hieß es plötzlich: Autofahren wird zu teuer, nur noch Reiche dürfen fliegen. Das war wirklich das einzige Argument: Klimaschutz kostet. Das hat genügt. Das Gesetz wurde von der Bevölkerung mit knapp 52 Prozent abgelehnt. Eine solche Beeinflussung ist organisiert, und zwar weltweit. Es sind dieselben Interessensvertreter und Lobbyisten, die auf der Salärliste der Tabakkonzerne gestanden haben, und nachher auf der Salärliste von Exxon Mobile. Ich habe das persönlich erlebt.
Kromp-Kolb: Aber die Frage ist eben auch, wie man der falschen Propaganda etwas entgegensetzt. Die Personen auf den Salärlisten ziehen ja nicht selbst die Fäden. Sie vertreten nur die Strukturen, die dem Wandel im Weg stehen. Wer benennt jene, die solche falschen Ängste in die Welt setzen? Wer klärt die Öffentlichkeit über die Interessen dahinter auf? Und: Wie schaut eine Lösung aus? Das kann ja nur eine Sozialpolitik parallel mit einer Umwelt- und Klimapolitik sein.
Stocker: Völlig einverstanden.
Kromp-Kolb: Und im Aufzeigen von Lösungen ist die Wissenschaft noch säumig. Wie funktioniert das wirklich? Darüber wird wenig gesprochen. Deshalb können österreichische Politiker zum Beispiel ohne Weiteres sagen, dass eine Krankenschwester aus dem strukturschwachen Waldviertel ihren Job im anderthalb Stunden entfernten Wien verliert, wenn das Benzin so teuer wird. Wie viele solcher Krankenschwestern gibt es denn überhaupt? Und warum gibt es kein attraktives Öffi-Angebot in Fahrraddistanz, kein Spital im Waldviertel? Das Beispiel ist absurd, aber es wird geschluckt, weil es kein Gegenmodell gibt.
Stocker (lacht): Ja.
Kromp-Kolb: Und da geht es schon auch um Werte. Um die soziale Frage, um globale Gerechtigkeit. Und es geht um Machtinteressen und Machtstrukturen. Das sind Themen, zu denen man in den IPCC-Berichten nichts findet. Und diese Diskussion wird viel zu wenig geführt. Wenn wir das aber nicht tun, wird es sehr schwer.
Stocker: Ich glaube wirklich, der große Fortschritt wird von der Straße kommen.
Kromp-Kolb: Das glaube ich auch. Veränderung wird von der Straße kommen. Die Menschen und die Gesellschaft sind zu Unglaublichem fähig, wenn sie richtig motiviert und informiert werden. Und das kann völlig überraschend sein. Ein gesellschaftlicher Kipppunkt, sozusagen. Kein politisches Modell hat Fridays for Future vorhergesehen.
Stocker: Ja. Vielleicht noch ein anderes Beispiel für einen solchen gesellschaftlichen Kipppunkt: Die Debatte übers Rauchen im öffentlichen Raum. Es brauchte ein Verbot, um das zu beenden – vorher gab es heftigste Debatten, aber heute scheint es uns selbstverständlich. Wir werden auch für den Klimaschutz Dinge verbieten müssen, zum Beispiel Verbrennungsmotoren oder Ölheizungen in Neubauten.
Kromp-Kolb: Im Grunde sind Verbote ja an der Tagesordnung. Kinderarbeit zum Beispiel ist verboten, und kein Mensch würde fordern, das zu ändern.
Stocker: Der Markt hat das, meines Wissens, auch nicht von selbst geregelt, oder?
Wir alle tragen Verantwortung auf allen Ebenen, sagt Kromp-Kolb: im Privaten, im Beruflichen, für uns selbst und für die Strukturen, in denen wir uns bewegen. Sie persönlich lebe so klimafreundlich, wie es ihr „als Teil dieser Gesellschaft“ nur möglich sei. An der Uni versuche sie, ihre Studierenden „so weit zu bringen, dass sie auch in anderen Lehrveranstaltungen gezielt Fragen zur Nachhaltigkeit und zum Klimawandel stellen können“. Wenn ein Unternehmer ihr berichte, dass seine Firma nahezu CO2-neutral arbeite, „dann sag ich immer: Und was haben Sie getan, um die Rahmenbedingungen zu ändern, so dass es für alle anderen auch leichter wird?“
Sie selbst engagiert sich dafür, die Bedingungen für mehr Klimaschutz in den österreichischen Universitäten zu verbessern. Gemeinsam mit anderen hat Kromp-Kolb eine Allianz von Hochschulen gegründet, die nach mehr Nachhaltigkeit streben – im eigenen Betrieb, in der Lehre, in der Forschung. Daneben war sie an der Gründung des Climate Change Center Austria (CCCA) beteiligt, eines klimawissenschaftlichen Netzwerks aus österreichischen Universitäten und weiteren Institutionen. Im CCCA arbeiten Wissenschaftler:innen gemeinsam beispielsweise an Fragen der Klimagerechtigkeit, der gesellschaftlichen Transformation, der Kosten des Klimawandels für Österreich; und sie nehmen auch Stellung zu politischen Fragen.
»Es gilt in der Wissenschaft als wesentlich weniger beschämend, wenn eine Katastrophe nicht vorhergesagt wurde, als wenn eine vorausgesagte Katastrophe nicht eingetreten ist. Das führt oft zu einer falschen Zurückhaltung«
Helga Kromp-Kolb
An gesellschaftlichen Veränderungen als Aktivist zu arbeiten: Das wäre Stockers Sache nicht. Politisch Stellung aber bezieht auch er: „Seit der Verabschiedung des Pariser Abkommens habe ich absolut keine Mühe mehr, den Politikern zu sagen: Hey, das habt Ihr beschlossen! Und das bedeutet: Runter. Mit. Den. Emissionen. Und zwar auf null.“
Warum ist das verfügbare Wissen über die Klimakrise so umfangreich – und wird dennoch viel zu wenig dagegen unternommen? Die Frage treibt Kromp-Kolb um.
Und warum gelingt es den Universitäten nicht besser, zu Lösungen beizutragen? Kromp-Kolbs Antwort: Das System bietet zu wenig Anreize. „Zu publizieren und von anderen zitiert zu werden, ist viel wichtiger, als konkrete Lösungen zu finden. Man spricht in der Regel nur über das eigene Forschungsgebiet – aber dann kann man das große Ganze des Klimawandels gar nicht beschreiben. Und vor allem die Naturwissenschaften tun sich sehr schwer damit, Risiken rechtzeitig als solche anzuerkennen, weil sie exzessiv statistische Belege verlangen.“ All das müsse sich ändern. Kromp-Kolb fordert: „Wir müssen endlich glauben, was wir wissen!“
Frau Kromp-Kolb, Herr Stocker, wie kann es gelingen, ein noch größeres Bewusstsein für die Dringlichkeit der Klimakrise zu schaffen?
Stocker: Wir brauchen immer noch mehr Zahlen und Geschichten, die berühren. Ein besseres Wissen darüber, wie die Klimakrise mit der Biodiversitätskrise zusammenhängt, und wie diese mich persönlich betreffen.Eindrückliche Bilder, eindrückliche Sätze, die uns helfen, gut zu kommunizieren.
Ich spreche in jüngster Zeit viel darüber, dass Klimaschutz unsere Ressourcen bewahrt. Dass es eben nicht nur ein paar Zahlen sind – Millimeter Meeresspiegelanstieg pro Jahr, Zehntelgrad Celsius – sondern letztlich geht es um unser Wasser, unser Land, unsere Gesundheit. Das kommt bei den Menschen schon schneller und direkter an.
Kromp-Kolb: Man muss auch die Ereignisse, die uns die Natur bedauerlicherweise immer wieder zur Verfügung stellt – Extremhitze, Überschwemmungen – kommunikativ nutzen. Sie schenken uns Aufmerksamkeit. 2021 war dafür ja leider ideal.
Stocker: Ich versuche auch, verstärkt zu zeigen, welche Chancen in einer klimafreundlichen Transformation liegen, in klimafreundlichen Innovationen. Sie könnten uns eine neue Industrielle Revolution bringen! Und wenn wir rechtzeitig einsteigen, wäre die Schweiz führend in den neuen Technologien.
Kromp-Kolb: Ich glaube auch, dass man nicht in zu viel Angstmache verfallen darf. Wir müssen die positiven Seiten zeigen. Eine Vision davon, wie eine Netto-Null-Welt in der Schweiz, in Österreich, in Deutschland und global im Jahr 2040 aussehen kann. Das ist mehr als technologische Innovation, es ist auch soziale Innovation. Wir müssen erklären, dass das eigentlich als unheimliche Chance auf ein besseres Leben für alle, gerade für die derzeit Benachteiligten, genutzt werden kann. Für jeden Einzelnen, und für alle Menschen. Und etwas Besseres wird man nicht mehr abwehren. Man will es bald haben.
Alexandra Endres
In Teil 1 unserer Serie über Klimaforschung und öffentliche Kommunikation haben wir
Brigitte Knopf und Stefan Rahmstorf porträtiert,
in Teil 2 Hartmut Graßl und Elena-Maria Vorrath sowie in Teil 3 Friederike Otto und Karsten Schwanke