"Nicht ich. Nicht jetzt. Nicht so. Zu spät." Auf diese Kurzform lassen sich die  Argumentationslinien bringen, die typischerweise gegen einen schnellen und ambitionierten Klimaschutz vorgebracht werden. Ein Forschungsteam des Mercator-Instituts für globale Gemeingüter und Klimawandel in Berlin (MCC) hat sie im Juli 2020 in einem Fachaufsatz herausgearbeitet, gemeinsam mit dem MCC haben wir sie in ein übersichtliches Poster und ein interaktives Quiz verarbeitet.

Anita Habel ist Kommunikationspsychologin und Sozialwissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf gesellschaftlicher Transformation. Dagmar Petermann ist Physikerin und Psychologin sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Beide sind Sprecherinnen der Psychologists for Future.

 

Frau Habel, wie funktioniert die Verzögerungsargumentation „Nicht ich“?

Anita Habel: Es wird Verantwortung abgeschoben, beispielsweise auf Einzelpersonen – etwa indem man sagt, Verbraucher:innen sollen andere Konsumentscheidungen treffen und es liege in der Eigenverantwortung, sich klima- und umweltfreundlicher zu verhalten. Das lenkt den Fokus weg von den strukturellen Veränderungen, die so dringend notwendig sind.

Wie funktioniert „Nicht jetzt“?

Anita Habel: Auch hier werden nicht-transformative Lösungen forciert. Die Aufmerksamkeit wird auf Maßnahmen gerichtet, die unzulänglich sind. Gleichzeitig wird der Eindruck erzeugt, dass sie ausreichend seien und dass deshalb größere Veränderungen nicht notwendig seien. Ganz zentral ist hier der Fokus auf technische Lösungen: Wir müssten zukünftig nur die richtigen Technologien entwickeln und effizienter werden – und dann sei alles super. Dem ist nicht so. Diese Verzögerungsargumentation ist bei vielen Politiker:innen zu beobachten.

Aber die Klimaziele werden doch immer höhergesteckt?

Anita Habel: Ständiges Reden über Ziele anstelle tatsächlicher Maßnahmen kann wirksames Handeln ebenfalls verzögern. Das kritisierte ja auch im Frühjahr das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das die unzureichenden Maßnahmen der Bundesregierung hinter den großen Ziel-Formulierungen aufzeigte. Verzögernd wirken übrigens auch Debatten nur um Anreize und Freiwilligkeit, statt um Standards und Limits.

Und was steht hinter dem Argument, man solle es „nicht so“ machen?

Anita Habel: Damit werden die Nachteile wirksamer Maßnahmen betont. Angeblich seien nur perfekte Lösungen, denen alle Beteiligten zustimmen könnten, umsetzbar. Oder die Kosten und der Aufwand zur Umsetzung von Maßnahmen seien zu groß. Dabei wird ausgeklammert, welche Kosten und welcher Aufwand auf uns zukommen, wenn sich die ökologischen Krisen weiter verschärfen.

Oft wird ja auch die soziale Gerechtigkeit von Klimamaßnahmen thematisiert.

Anita Habel: Es ist wichtig, soziale Gerechtigkeit bei allen Maßnahmen zu berücksichtigen. Doch wenn etwa die CDU, die sonst kaum soziale Ungleichheiten thematisiert, in der Debatte um die CO2-Bepreisung sich Sorgen macht, dass die Bepreisung ärmere Haushalte zu stark belasten könne, dann zeigt sich hier die Verzögerungsdynamik deutlich. Zumal die CDU auch das Modell zur Ausgleichszahlung, das ärmere Haushalte entlasten könnte, ablehnt.

Und schließlich wird gesagt, es sei jetzt „zu spät“. Warum ist dieses Argument beliebt?

Anita Habel: Es ist eine Kapitulation zu sagen, es sei nicht oder nicht mehr möglich, Maßnahmen gegen die ökologischen Krisen zu ergreifen, und wir müssten uns damit abfinden. Oder wir sollten uns auf die Anpassung an die Veränderungen durch die Klimakrise konzentrieren. Dieses Argument wird möglicherweise noch häufiger zu hören sein, wenn erste Kipppunkte im globalen Klima- und Ökosystem eintreten.

Frau Petermann, warum ist es wichtig, typische Verzögerungsdiskurse identifizieren zu können?

Dagmar Petermann: Gerade in Europa und im deutschsprachigen Raum ist das Verständnis der Verzögerungsdiskurse wichtig, da die ideologische Verleugnung des Klimawandels hier nicht so ausgeprägt ist wie in den USA und den angelsächsischen Ländern. Das heißt, der menschengemachte Klimawandel wird überwiegend anerkannt. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns mehr damit befassen, welche Argumentationslinien in Bezug auf die Eindämmung und Bewältigung der Klimakrise präsent sind, anstatt uns auf die verhältnismäßig seltene Leugnung der Klimakrise zu fokussieren.

Warum wirken diese Verzögerungsargumente so gut?

Anita Habel: Menschen neigen dazu, große Veränderungen zu vermeiden. Außerdem sind wir manche Argumentationslinien aus anderen Bereichen gewohnt: Technische Lösungen haben uns bisher schon viel Fortschritt gebracht. Auch die Individualisierung gesellschaftlicher Verantwortung ist nicht neu – sie lässt sich seit vielen Jahren beispielsweise in den Bereichen der Erwerbsarbeit oder dem Gesundheitsbereich beobachten.

 

"Wir müssen uns mehr mit Argumentationslinien in Bezug auf die Eindämmung und Bewältigung der Klimakrise befassen, anstatt uns auf die verhältnismäßig seltene Leugnung der Klimakrise zu fokussieren"

 

Dagmar Petermann: Verzögerungsargumente können psychisch entlastend sein. Insbesondere, wenn eine Person einen Konflikt zwischen den notwendigen Änderungen und ihren Möglichkeiten erlebt, sich beschuldigt fühlt, oder von der psychischen Verarbeitung der ökologischen Krisen oder der sozialen Veränderungen überfordert ist, dann können die Verzögerungsargumente helfen, einen Umgang mit diesen Belastungen zu finden. Die Entlastung von Überforderung dürfte eine wesentliche Funktion von Verzögerungsargumenten sein.

Was wäre eine gute Erwiderung auf diese Entlastungsargumente?

Anita Habel: Es ist zunächst wichtig, anzuerkennen, dass diese Argumente die Funktion der Entlastung und des Schutzes vor Überforderung erfüllen können. Dann können Argumente eingebracht werden, die nicht verzögern, aber die entsprechenden Funktionen ebenso gut, vielleicht sogar besser, erfüllen. Idealerweise entsteht eine Gesprächssituation, in der auf Augenhöhe gemeinsam Lösungen gefunden werden können, welche anschlussfähig sind und so die Verzögerungsargumente überflüssig machen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Dagmar Petermann: Das Verzögerungsargument, dass Lösungen nur in Form von Anreizen und Freiwilligkeit funktionieren würden, kann die Funktion erfüllen, mögliche Widerstände aus der Bevölkerung gegen neue Standards und Limits und die Angst vor Gegenwind zu vermeiden. Tatsächlich aber zeigen diverse Studien, dass sich die Mehrheit der Menschen in Deutschland und auch viele Unternehmen klare Vorgaben und Rahmenbedingungen wünschen, die ihnen Orientierung geben, sie entlasten und gleichzeitig wirksam gegen die ökologischen Krisen sind. Natürlich lässt sich Gegenwind trotzdem nicht vermeiden. Die Frage ist dann, was es braucht, um mit diesen Konflikten, die unvermeidlich auftreten werden, gut umgehen zu können.

Viele Verzögerungsargumente sind nicht falsch. Wie wichtig ist es, dass sie einen wahren Kern haben?

Dagmar Petermann: Ohne wahren Kern hätten die Argumente in Gesellschaften, die mehrheitlich den Klimawandel als reales Problem sehen, keine Chance. Der wahre Kern knüpft an die Anliegen der Adressat:innen der verschiedenen Milieus an. Gerade im intuitiven, schnellen Denken, also wenn die tiefergehende Reflektion ausbleibt, werden die Verzögerungsargumente durch ihren wahren Kern überzeugender.

Sieht sich derjenige, der diese Verzögerungsargumente vorbringt, möglicherweise nicht als Verzögerer, sondern als Realist?

Dagmar Petermann: Mit einem wahren Kern ist es möglich, kognitive Dissonanzen, das heißt Spannungszustände aufgrund von Widersprüchlichkeiten aufzulösen, ohne sich selbst als Bremser wahrzunehmen und sein Selbstbild und Selbstwertgefühl zu gefährden, sich vielleicht sogar als Realisten aufzuwerten. Das ist mit Argumenten ungeheuer schwer zu überwinden, denn es erfordert eine Veränderung in identitätsbildenden Aspekten.

Anita Habel: Genau deswegen kann es wichtig sein, den wahren Kern für die Entkräftung anzuerkennen und zu erweitern: Natürlich müssen auch andere Länder Maßnahmen ergreifen – und hier kann Deutschland eine Vorbildfunktion erfüllen. Natürlich braucht es auch die Veränderung individuellen Verhaltens – und genau dafür braucht es strukturelle Veränderungen, die eine andere Lebensweise erleichtern und ermöglichen. Natürlich sind große Veränderungen schwer und bringen Kosten mit sich – nur leider kommen wir nicht darum herum, deshalb lasst uns gemeinsam schauen, welche Lösungen wir finden und wie wir Widrigkeiten der Veränderungen auffangen können.

Macht es einen Unterschied, ob die Protagonisten dieser Verzögerungs-Argumentation dies böswillig oder aus gutem Glauben tun?

Dagmar Petermann: Die meisten Menschen haben ein positives Bild von sich selbst, ihren Motiven und Handlungen. Positives schreiben sie in der Regel eigenen Anstrengungen zu, Negatives äußeren Zwängen. Insofern werden die wenigsten sich selbst als böswillig erleben, und das gilt ebenso für die Mitglieder ihrer Gruppe. Auch die Wahrnehmung und Akzeptanz von Risiko spielen eine Rolle: Kurzfristiger Verlust wird schlimmer bewertet als langfristiger, selbst wenn der langfristige viel höher ist.

Was bedeutet das aber für die Adressaten dieser Botschaften: ist es für sie wichtig, ob Argumente aus gutem Glauben oder böswillig formuliert wurden?

Dagmar Petermann: Für die Adressat:innen ist die Zuschreibung, böswillig oder aus gutem Glauben, sehr relevant. Allerdings treffen wir solche Einschätzungen der Motive häufig intuitiv und damit hängen sie von den gleichen Faktoren ab wie die Einschätzung der Glaubwürdigkeit: Neben Sympathie und Autorität entscheiden insbesondere die Gruppenzugehörigkeit, sowie dadurch aktivierte Stereotype über die Reaktion der Adressat:innen – von Zustimmung bis Reaktanz.

Anita Habel: Es kann deshalb schwer sein, das Motiv oder die verzögernde Wirkung zu erkennen – vor allem, wenn es wie eine gute Sache wirkt. Beispielsweise ist die Berechnung des individuellen CO2-Fußabdruckes eine Erfindung der Ölindustrie. Damit hat sie dazu beigetragen, dass das individuelle Verhalten heute so im Fokus steht, und es wurde damit lange Zeit erfolgreich von der Verantwortung der fossilen Industrie abgelenkt. Im Marketing von Konzernen – Stichwort Greenwashing – und auch in politischen Kampagnen wie beispielsweise von der „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ werden Verzögerungsdiskurse ganz gezielt eingesetzt auf eine Art und Weise, die so wirkt, als ob etwas Gutes bewirkt werden wolle.

Argumente allein aber kommen nicht immer bei den Menschen an?

Anita Habel: Die Verzögerungsargumente funktionieren auch deshalb, weil sie intuitiv schnell verständlich scheinen. Deshalb braucht es neben ausführlichen Widerlegungen auch möglichst kurze, einprägsame, bildhafte Entkräftungen der Verzögerungsargumente, für die es keinen großen kognitiven Aufwand braucht.

 

"Es kann wichtig sein, den wahren Kern eines Verzögerungsarguments anzuerkennen und es dann zu erweitern. Zum Beispiel: Natürlich müssen auch andere Länder Maßnahmen ergreifen – und hier kann Deutschland eine Vorbildfunktion erfüllen"

 

Wichtig ist auch, von wem ein Argument kommt: Sind es Personen oder Organisationen, die von der Zielgruppe als glaubwürdig angesehen werden? Für manche sind das eben nicht Wissenschaftler:innen oder Politiker:innen, sondern der eigene Berufsverband, ein Promi oder Influencer, das Wirtschaftsforum, die Hausärztin, der Landwirt aus dem Heimatdorf, Familienmitglieder oder Freund:innen. Die Wirkung des Arguments wird außerdem von seiner Anknüpfungsfähigkeit bestimmt: Trifft insbesondere der wahre Kern des Arguments auf Vorwissen, Einstellungen, Werte oder Erfahrungen einer Person, wozu das Argument widerspruchsfrei passt, gewinnt das Argument an Glaubwürdigkeit.

Müssen Argumente also je nach Bildungsstand und sozialem Milieu angepasst werden?

Dagmar Petermann: Ja, es können die verschiedenen milieuspezifischen Einstellungen mit ihren jeweiligen Risikobereitschaften und Risikobewertungen angesprochen werden, je nach Kontext.

Parteien etwa bedienen ihre Anhänger mit den passenden Argumenten: Noch-Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) weist auf die negativen Folgen eines konsequenten Klimaschutzes für Wirtschaft und Wohlstand hin. FDP-Chef Christian Lindner setzt allein auf neue Technologien, auf technische Innovationen. Und AfD-Vertreter schieben die Verantwortung gern ab, indem sie auf andere Länder hinweisen, die noch mehr Emissionen verursachen. Für die Entkräftung von Verzögerungsargumenten bzw. für die Anknüpfungsfähigkeit von wirksamen Maßnahmen sollte daher ebenfalls geschaut werden, welche Argumente für die jeweilige Zielgruppe passend sind.

Im Umgang mit sogenannten Fake-News hat sich ja gezeigt, dass es wenig hilfreich ist, das falsche Argument zu wiederholen, um es dann zu widerlegen.

Dagmar Petermann: Ja, es hat sich als wirksam erwiesen, wenn Informationen über einen Mechanismus der Fehlinformation gegeben werden, ohne diese direkt zu nennen. Fehlinformationen zu wiederholen, führt dazu, dass sie eher hängen bleiben. 

Wenn man im Bestreben, etwas „neutral“ zu beleuchten, immer auch die Gegenseite einer Debatte einlädt – wie etwa Klimawandelleugner:innen, dann entsteht der Eindruck, dass es viel größere Uneinigkeit in der Wissenschaft gäbe, als dies tatsächlich der Fall ist. Dem Eindruck von Uneinigkeit unter Wissenschaftler:innen kann dadurch entgegengewirkt werden, dass man darüber informiert, dass Medien die Tendenz haben, immer auch eine Gegenseite einzuladen – oder gar fachfremde Quasiexpert:innen.

Sie meinen also, dass Journalisten sich über die Erzeugung einer „false balance“ bei ihrem Bemühen, alle Seiten zu Wort kommen zu lassen, im Klaren sein müssen – und dann Mut zur Lücke zeigen müssen? Was wäre aber die Gegenstrategie?

Anita Habel: Ja, der False-Balance-Effekt sollte medial sehr viel stärker beachtet und dann der Mut zur Lücke auch öffentlich erklärt werden. Im Fall der Verzögerungsargumente könnte es außerdem sehr hilfreich sein, wenn die Formen dieser Argumente bekannter wären, damit wir Verzögerungen schneller erkennen und stattdessen wirklich wirksame Lösungen angehen können.

Das Interview führte Christiane Schulzki-Haddouti. Es ist zuerst auf Riffreporter.de erschienen