Anita Habel ist Kommunikationspsychologin und Sozialwissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf gesellschaftliche Transformation. Birgit Zech hat als Kinder- und Jugendpsychotherapeutin eine eigene Praxis in der Nähe von Augsburg. Beide sind bei den Psychologists for Future aktiv.

 

Wenn Alexander Dobrindt (CSU) vor einer Klima-RAF warnt und in den Kommentarspalten mancher Zeitungen in Bezug auf die „Letzte Generation“ von Terror die Rede ist: Spricht da schlicht die Sorge um Demokratie und Sicherheit? 

Anita Habel: Wir können natürlich nicht für alle Menschen sprechen. Aber aus psychologischer Sicht kann man sagen: Wenn auf eine Aktion eine besonders überzogene und unverhältnismäßige Reaktion folgt, ist das in der Regel ein Zeichen dafür, dass sich hier ein Konflikt entlädt, der mit der eigentlichen Aktion nicht unbedingt etwas zu tun hat.

Was heißt das mit Blick auf die Klimaproteste?

Habel: Wir leben in einer Zeit multipler Krisen, die sich seit Jahren verschärfen: Corona, Ukrainekrieg, Energiekrise, Inflation, Abstiegsängste, ökologische Krisen, soziale Spannungen. All das kann eine enorme Belastung sein und sehr reizbar machen. Weil die Krisen so vielfältig und komplex sind, fällt es vielen Menschen gleichzeitig schwer, einen Ort zu finden, um diesen Stress und diese Wut abzuladen. In einer solchen Situation ist es für manche naheliegend, ihre Aggression an anderen auszulassen.

 

"Wieso verunglücken denn so viele Radfahrer:innen? Warum gibt es so viele Staus? Diese Fragen stelle ich mir dann gar nicht. Ich muss mich nicht verändern – was ja viel komplizierter wäre und vielen Leuten Angst macht"

 

Birgit Zech: Zum anderen ist dies auch eine Strategie, eigene ungute Gefühle und kognitive Dissonanzen abzuwehren und auf den "vermeintlich Schuldigen" zu projizieren und ist möglicherweise deshalb auch so heftig. Sprich: Ich kann endlich mal jemanden in die Schranken weisen und bestrafen – und fühle mich wieder wirkmächtig. Dass mein Vergeltungswunsch nicht unbedingt dem Protestierenden gilt, ist dabei zweitrangig. Hauptsache, ich habe einen vermeintlich klaren Schuldigen und muss weder mich selbst noch die Strukturen hinterfragen, in denen ich lebe. Wieso verunglücken denn so viele Radfahrer:innen? Warum gibt es so viele Staus? Diese Fragen stelle ich mir dann gar nicht. Ich muss mich nicht verändern – was ja viel komplizierter wäre und vielen Leuten Angst macht. Lieber mache ich den Überbringer der schlechten Nachrichten schlecht.

Warum entladen sich diese negativen Gefühle ausgerechnet an den Klimaaktivist:innen? Es gäbe doch genug andere Anlässe: rechtsextreme Übergriffe, dass so viele Radfahrer:innen auf Deutschlands Straßen verunglücken, dass ständig ein Rettungswagen irgendwo feststeckt – um nur einige zu nennen.

Habel: Das Feindbild „Klimaaktivist“ ist ja kein Zufall, sondern wurde über Wochen aufgebaut – auch von Akteuren aus der Politik und aus den Medien, die eigentlich eine besondere Verantwortung haben, für Deeskalation zu sorgen. Im Gegensatz zu rechtsextremen Übergriffen treffen diese Proteste außerdem meist die Mehrheitsgesellschaft. Zugespitzt gesagt: Wenn ein Flüchtlingsheim angezündet wird, stört das die meisten Menschen nicht in ihrem Alltag. Bei den aktuellen Klimaprotesten ist das anders. Sie lassen sich viel schlechter ignorieren und haben deshalb das Potenzial, höhere Widerstände auszulösen. Einige Menschen wollen lieber ihre Ruhe haben, statt sich mit komplexen Problemen zu beschäftigen. Das haben wir schon bei Corona gesehen: Viele wünschten sich den Alltag, Sicherheit und Überschaubarkeit zurück.

An etlichen Straßenblockaden gehen – meist männliche – Autofahrer regelrecht auf die Aktivist:innen los, werden handgreiflich, versuchen sie von der Straße zu zerren. Wieso?

Zech: Auch hier müssten wir die Menschen selbst fragen. Es passt jedoch zum bereits genannten Empfinden der Wirkmächtigkeit: Hier kann ich anpacken und das Hindernis im wahrsten Sinne des Wortes selbst aus dem Weg räumen. An vielen anderen Stellen geht das nicht so einfach.

Frau Habel, Sie sagen, Politiker:innen und die Medien haben eine besondere Pflicht zu deeskalieren. Wie soll das konkret aussehen?

Habel: Gerade ist die Leipziger Autoritarismus-Studie 2022 erschienen. Fast 75 Prozent der Befragten haben da der Aussage zugestimmt: Ich habe keinen Einfluss darauf, was die Regierung macht. Das zeigt deutlich, dass es massiven Nachholbedarf in der demokratischen Teilhabe gibt. Wenn Menschen beteiligt werden, können sie ihre Unzufriedenheit dort thematisieren, wo sie hingehört – und müssen sie nicht an anderen auslassen.

Was könnten die Blockierer selbst tun, um die diffuse Wut der „Durchschnittsbürger:innen“ in konstruktivere Bahnen zu lenken?

Zech: Ich glaube nicht, dass die Aktivist:innen hier in der Pflicht sind. Ziviler Ungehorsam ist ja meist eine Minderheitenangelegenheit, die anecken will und muss. Eventuell die Mehrheit der Bevölkerung gegen sich aufzubringen – das wird bewusst in Kauf genommen. Denn es bietet die Chance, Solidarität und vielleicht sogar eine Gegenbewegung zu erzeugen. Das sehen wir gerade in Bayern, wo Klima-Aktivist:innen aufgrund eines neuen Polizeigesetzes für 30 Tage in Präventivhaft genommen wurden – und dafür viel Solidarität erfahren.

 

"Ziviler Ungehorsam will und muss anecken. Eventuell die Mehrheit der Bevölkerung gegen sich aufzubringen – das wird bewusst in Kauf genommen. Denn es bietet die Chance, Solidarität zu erzeugen"

 

Habel: Immer mehr Menschen sagen mittlerweile: Ich finde die Protestform zwar nicht gut, aber die Reaktionen darauf sind noch erschreckender – darüber sollten wir reden. Wenn dann die Verkehrswende und unser Verständnis von Mobilität überhaupt mal wieder in den Blick rücken, ist das doch eine sehr hilfreiche Folge der Proteste.

Frau Zech, Sie sind bei den Psychologists for Future auch in der AG Unterstützung aktiv, die Klimaaktivist:innen zum Beispiel zum Thema Resilienz berät. Wie können Protestierende gut mit den extremen Reaktionen umgehen, die ihnen gerade entgegenschlagen?

Zech: Es hilft immer, sich in der Gruppe aufzufangen. Sie bietet einen Rahmen, um Gefühle auszudrücken und zu teilen. Es kann auch hilfreich sein, sich in die Perspektive des Gegenübers hineinzuversetzen, also zum Beispiel in den Autofahrer, der im Stau steht und wütend ist. Wenn man nachvollziehen kann, was ihn bewegt, lässt man sich von negativen Reaktionen vielleicht nicht so sehr berühren und gerät nicht selbst in Wut. Weil man versteht, dass man gerade nur ein symbolisches Opfer ist.

Das Interview führte Theresa Horbach