Der Mai dieses Jahres war kühl in Deutschland. Er war doch kühler als normal, oder? Aber vielleicht schien es uns auch nur so, weil ja der Mai des vergangenen Jahres erheblich wärmer war als der langjährige Durchschnitt? Und wie war eigentlich das Mai-Wetter vor zwei Jahren? Oder vor fünf Jahren? Wie Menschen Wetteranomalien wahrnehmen (und sich dazu äußern) - dieser Frage ist ein US-Forscherteam wissenschaftlich nachgegangen. Ergebnis: Das Gedächtnis des Menschen ist relativ kurz - jedenfalls zu kurz, um den Klimawandel korrekt einschätzen zu können.
Foto: Nick Reimer
Was Menschen unter einem "normalen Wetter" verstehen, beruht auf den Wetterverhältnissen der zurückliegenden zwei bis acht Jahre. Bekanntlich ist das Klima allerdings der mindestens dreißigjährige Durchschnitt des Wetters; man braucht deshalb Daten über einen mindestens so langen Zeitraum, um Klimaveränderungen verlässlich erkennen zu können. Weil ihre Erinnerung zu kurz greift, können also viele Menschen die Klimakrise nicht selbst wahrnehmen.
Das menschliche Wettergedächtnis reicht lediglich zwei bis acht Jahre
"Wir erleben historisch extreme Wetterbedingungen, aber sie fühlen sich vielleicht nicht besonders ungewöhnlich an, wenn wir vergessen, was vor mehr als ungefähr fünf Jahren passiert ist", sagt Frances C. Moore, Umweltökonomin an der University of California und Hauptautorin der Studie, die in den renommierten Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) erschienen ist. "Es besteht die Gefahr, dass wir die Bedingungen, die wir eigentlich nicht normalisieren wollen, schnell normalisieren."
Für ihre Schlussfolgerungen haben die vier Forscherinnen und Forscher Alltagsunterhaltungen über das Wetter ausgewertet - und zwar solche, die auf dem Kurznachrichtendienst Twitter abliefen. Das Team sammelte 2,18 Milliarden Tweets, die zwischen März 2014 und November 2016 von US-amerikanischen Nutzern versandt wurden und zu denen Geo-Daten vorlagen, also bei denen die Absender lokalisiert werden konnten. Anhand dieser Informationen konnten die Nachrichten mit den jeweils lokalen Wetterdaten zum jeweiligen Zeitpunkt kombiniert werden.
Anschließend werteten die Forscher , bei welchen Temperaturen die meisten Wortmeldungen über das Wetter erschienen. Für die inhaltliche Auswertung der Tweets nutzten sie Analysewerkzeuge, die positive oder negative Assoziationen von Wörtern bestimmten Stimmungen zuordnen. Dabei kam zum Beispiel heraus, dass viele Menschen dann über das Wetter reden, wenn sie die Temperaturen an ihrem Ort als ungewöhnlich wahrnehmen. Dabei verbinden sie Wetteranomalien mit negativen Empfindungen, sie zeigten sich etwa unglücklich oder mürrisch über besonders kalte oder heiße Temperaturen.
Die Forscher fanden eine "soziale Normalisierung" von Wetteranomalien
Doch wenn sich die unnormalen Temperaturen in den Folgejahren wiederholten, wurden sie prompt weniger kommentiert. Die Forscher sehen darin einen Hinweis, dass die Menschen das Wetter nach relativ kurzer Zeit nicht mehr als bemerkenswert empfanden - interessanterweise jedoch blieb die (aus Äußerungen ableitbare) Gefühlslage schlecht. Die Schlussfolgerung des Forscherteams: Es finde eine soziale Normalisierung von unnormalen Wetterbedingungen statt, jedoch keine gefühlsmäßige Anpassung.
Der Mensch und seine Sinne reagieren also auf den Klimawandel wie der sprichwörtliche Frosch im Wasser: Wird er in einen Topf mit heißem Wasser geworfen, reagiert er sofort und springt heraus; wird er jedoch im Topf mit anfangs kühlem Wasser langsam erhitzt, lässt er sich ohne Gegenwehr kochen. Diese Metapher wird gerne verwendet, um eine soziale Normalisierung in einem zunehmend bedrohlich werdenden Umfeld zu beschreiben. Das Autorenteam verweist darauf, dieses Phänomen sei beispielsweise auch beim Umgang mit dem (langsamen) Artensterben und dem Niedergang der Ökosysteme zu beobachten.
Auf Basis ihrer Daten erwarten die Forscher, dass sich Menschen auch künftig an steigende Temperaturen zumindest sozial gewöhnen werden. Den zu erwartenden Effekt verdeutlichen sie mit einer einfachen Grafik (siehe unten). Objektiv betrachtet mögen die Temperaturen im Zuge der Klimaerhitzung deutlich steigen - doch wenn sich der Vergleichsmaßstab ständig verschiebt, dann ist subjektiv kaum eine Erhitzung spürbar.
In Rot zeigt diese Grafik die Temperaturentwicklung für die USA bis Ende dieses Jahrhunderts, wie sie Klimamodelle bei ungebremstem Ausstoß an Treibhausgasen erwarten (blass sind die Ergebnisse einzelner Klimamodell-Rechnungen dargestellt, die fette Linie ist deren Durchschnitt). Gegenüber dem Durchschnitt der Jahre 1981-2010 zeigt sich ein erheblicher Anstieg um mehrere Grad Celsius. Die blauen Kurven zeigen dieselben Daten, wenn sich der Vergleichsmaßstab mit einigen Jahren Verzögerung verschiebt - dann ist keine signifikante Erhitzung mehr erkennbar. Und so ungefähr funktioniert laut der Studie das menschliche Wettergedächtnis; Grafik: Moore et al. 2019
Was bedeutet nun diese Art der menschlichen Wahrnehmung für die Bereitschaft, Klimaschutzmaßnahmen zu unterstützen oder gar einzufordern? Die Studienergebnisse deuten darauf, dass der öffentliche Druck für mehr Klimaschutz durch eine allgemeine "Wetter-Vergesslichkeit" abgeschwächt sein könnte. Wegen der festgestellten kurzen Aufmerksamkeitsspanne, formulieren es die Autoren, gebe es nur "erheblich begrenzte Gelegenheiten", die Klimapolitik entscheidend voranzubringen. Sie schließen aber nicht aus, dass starke Wetterextreme wie Stürme, Dürren, Waldbrände oder Überflutungen die "soziale Normalisierung" bremsen können. Dasselbe könnte passieren, wenn bei weiter steigenden Temperaturen irgendwann physiologische und biologische Grenzen überschritten werden.
"Die Brisanz der Klimakrise wird unterschätzt"
Die Umweltpsychologin Sonja Geiger von der TU Berlin hält die Studie für interessant - denn sie zeige, wie die Klimachaotisierung "das neue Normale" werden kann. Im Prinzip seien die Studienergebnisse aber nicht verwunderlich, da "die Menschen das jeweils Erlebte mit dem vergleichen, was sie im Gedächtnis haben - und das sind halt vor allem die vorherigen Jahre und nicht historische oder gar paläontologische Klimakurven". Im Ergebnis werde die Brisanz der Klimakrise unterschätzt. "Der Klimawandel ist für uns Menschen so abstrakt, dass wir natürlich nach konkreteren Ereignissen schauen", sagt Gerhard Reese, Sprecher der Fachgruppe Umweltpsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. "Und da ist aktuelles Wetter nun mal greifbarer - auch wenn Wetter eben nicht mit Klima gleichzusetzen ist."
Sonja Geiger meint, der öffentliche Druck für Klimaschutz sei "jetzt nicht so hoch wie er eigentlich schon längst sein sollte". Gleichwohl erwartet sie, dass er sich in dem Maße erhöhe, in dem die negativen Auswirkungen der Klimaerhitzung deutlicher werden. Der Sozialpsychologe Florian Kaiser von der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg erwartet, Forderungen nach mehr Klimaschutz würden sich wohl durchaus "als Funktion der Wetteranomalien entwickeln, die als solche wahrgenommen und kommuniziert werden". Allerdings werde das wohl "nicht prospektiv, also in Antizipation der Schäden", geschehen - sondern erst nachwirkend, also als Folge bereits erfahrener Schäden.
Christiane Schulzki-Haddouti