„Birke, Erle, Haselnuss, ist was Sabine meiden muss.“ Dieser Pollenallergiker-Vers aus der Gebrauchslyrik, auf den eigenen Vornamen adaptiert, ist für viele Menschen hilfloser Seufzer und selbstironische Ermunterung zugleich: Jetzt ist es mies; ich kann nichts daran ändern, aber es wird vorbeigehen. Und: Ich bin nicht allein mit diesem Schicksal. Tatsächlich haben ungefähr 15 Prozent der Bevölkerung mit irgendeiner Form von Heuschnupfen zu tun. Der Flug der Pollen wird tagesaktuell unter anderem vom Deutschen Wetterdienst und von Herstellern von Allergie-Medikamenten vorhergesagt.

Wer im frühen Frühjahr draußen plötzlich zum Nasenspray greift oder hektisch Papiertaschentücher aufschüttelt, der gehört vermutlich zur Leidensgemeinschaft der Frühblüher-Allergiker: Birke, Erle, Haselnuss. Dabei ist es noch Glück im Unglück, wenn das die einzigen Pollen sind, auf die die Person reagiert: Später kommen ja noch Gräser und Getreide, einige Laubbäume, und manches, was am Wegesrand oder auf Wiesen wächst wie Beifuß, Wegerich oder Ambrosia.

Ambrosia-Pflanzen

Die Ambrosia blüht sehr hübsch, ihr Pollen macht aber auch vielen Allergikern zu schaffen – im Zuge des Klimawandels breitet sie sich auch in Deutschland aus; Foto: WikimediaCommons/Chris Light

Die Leidensgemeinschaft der Pollenallergiker wird mit dem Klimawandel größer, und das Leiden wird länger und tiefer. Die Haselblüte startet mittlerweile im langjährigen Mittel schon Mitte Februar, statt wie früher Anfang März; aber manchmal beginnt sie auch schon im November davor. Die Zahl der Menschen, die mit ihren Symptomen zu Ärztin oder Arzt gingen, hat nach Zahlen zum Beispiel der Betriebskrankenkassen (BKK) von 2010 bis 2019 um 29 Prozent zugenommen.

Dabei spielt der Klimawandel eine bedeutende Rolle. „Das vermehrte Kohlendioxid in der Atmosphäre macht die Pollen nicht nur zahlreicher, sie lösen auch stärkere Reaktionen aus“, erklärt Elisabeth Boßlet. „Ozon und andere Luftschadstoffe machen die Pollen noch aggressiver.“ Es fliegen also nicht nur früher und mehr Pollen, wie Messungen gerade der Frühblüher zeigen – sie sind auch gefährlicher. „Die Betroffenen reagieren stärker und länger.“

Boßlet ist eine Betriebsärztin aus dem Saarland, sie gehört in ihrem Berufsverband VDBW (Verband deutscher Betriebs- und Werksärzte) zur Arbeitsgruppe Klimawandel, die Informationen und Hinweise für die Arbeit der Kolleg:innen zusammenstellt. Und sie betreut im Auftrag von Arbeitgebern ihrer Region deren Angestellte mit Jobs im Wald, in der Industrie oder im Büro, und hat darum einen guten Überblick, wo der Klimawandel die Gesundheitssituation bereits berührt – und verschärft.

Allergien sind nur eine von etlichen Gesundheitsfolgen des Klimawandels, die sich im Alltag zeigen können und dann indirekt auf die Arbeitswelt einwirken. „Es gibt auch zunehmend Insekten, die durch die milderen Winter besser überleben, und solche, die gerade erst im wärmer werdenden Deutschland Fuß fassen“, sagt Boßlet. In beide Kategorien fallen unter anderem die Zecken, wo sich neben den heimischen Tieren wie dem Gemeinen Holzbock die größeren Hyalomma-Arten ausbreiten. Bei den Mücken überlebt und brütet inzwischen auch die asiatische Tigermücke in weiten Teilen des südlicheren Deutschlands. „Von denen habe ich neulich eine auf meiner Terrasse entdeckt und erschlagen“, sagt Boßlet.

Insekten sind nicht nur lästig, sie können auch Krankheiten übertragen. Fachsprachlich ausgedrückt: Sie fungieren als Vektoren. Bei den bekannten Zecken gilt das für die Viruserkrankung Frühsommer-Menginoenzephalitis (FSME) sowie die Lyme-Borreliose, die durch Bakterien ausgelöst wird. Beide sind ernste Infektionen, die zu langen Erkrankungsphasen und langem Arbeitsausfall führen können. Und bei beiden wie etlichen anderen Infektionen sind im Rahmen des Klimawandels bereits Zunahmen zu beobachten: Zum Beispiel gab es 2019 um 50 Prozent mehr Borrelliose-Diagnosen im Bundesland Nordrhein-Westfalen als 2010, zeigen BKK-Zahlen.

 

„Es gibt zunehmend Insekten, die durch die milderen Winter besser überleben, und solche, die gerade erst im wärmer werdenden Deutschland Fuß fassen“

 

Hyalomma-Zecken können verschiedene Arten von Fleckfieber übertragen sowie das Krim-Kongo-hämorrhagische Fieber (mit einer extremen Letalität von bis zu 50 Prozent je nach Virusstamm), die Tigermücken das Chikungunya- oder das Dengue-Fieber. Das West-Nil-Virus kann sogar durch die seit langem in Deutschland heimischen Stechmücken übertragen werden, und auch Malaria-Mücken der Gattung Anopheles gibt es hierzulande bereits wieder. Mit Epidemien der Tropenkrankheiten rechnen die Fachleute bisher nicht, wohl aber mit einer Zunahme der Infektionen. Bisher ist das – mit Ausnahme von West-Nil-Infektionen – vermutlich in Deutschland noch nicht geschehen, weil die Insekten die Krankheiten von einer erkrankten Person aufnehmen müssten, bevor sie die Erreger weitergeben können. Aber es ist womöglich nur eine Frage der Zeit, weil es in südlichen Nachbarländern schon passiert ist.

Das Klima schlägt vielen auf die Seele

Mit dem Klimawandel gibt es zudem neue Auslöser für psychische Belastungen. „Das fängt schon damit an, dass Hitze die Menschen aggressiver machen kann – im Alltag, im Straßenverkehr wie am Arbeitsplatz“, sagt Boßlet. „Die Zündschnur ist dann einfach kürzer.“ Für manche wächst mit den Klimaveränderungen womöglich auch die Gefahr des Burnout. „Ich habe einen Gärtner weinen gesehen, weil er nicht mehr wusste, wie er mit dem Gießen fertig werden soll“, erzählt die Betriebsärztin. Und wer Zuhause Angehörige pflegt, dürfte oft während Hitzewellen, die bekanntlich besonders für alte und schwache Menschen gesundheitsgefährdend sind, mit einem schlechten Gefühl zur Arbeit gehen, wenn die Lieben an einem solchen Tag alleine bleiben. In all diesen Fällen kann Betroffene ein durchdringendes Gefühl der Hilflosigkeit überfallen.

 

„Ich habe einen Gärtner weinen gesehen, weil er nicht mehr wusste, wie er mit dem Gießen fertig werden soll“

 

Andere psychische Belastungen durch Folgen des Klimawandels können sein: Ein Trauma, wenn zum Beispiel das eigene Haus bei einer plötzlichen Flut verwüstet wird – oder wenn man Betroffenen helfen wollte und wenig ausrichten konnte. Zudem empfinden viele eher jungen Leute eine oft als „Klimaangst“ bezeichnete Besorgnis vor der Zukunft. Andere fühlen eine Art von Trauer um Orte, denen die Erderhitzung zusetzt oder die schon geschädigt oder zerstört wurden – zum Beispiel eine Lichtung im Wald oder ein Aussichtpunkt auf einen Gletscher, die für die Betroffenen persönliche Kraftorte waren. Die Fachwelt nennt diese schmerzhafte Empfindung Solastalgie. Boßlet zufolge müssten die Menschen dann erkennen, wie sie „ihre Ohnmachtsgefühle verringern und die Handlungsfähigkeit erhalten“ – oft brauchen sie dabei gezielte Hilfe.

Die steigenden Temperaturen selbst können aber auch Menschen im Schichtdienst die Chance auf einen erholsamen Schlaf am Tage rauben, so dass sie während einer Hitzewelle zunehmend übermüdet und überfordert ihre Aufgaben erledigen müssen. Dies ist eine Klimafolge, den Arbeitgeber kaum beeinflussen können, der aber enorme Rückwirkungen haben kann auf die Produktivität der Betriebe und nach Meinung von Fachleuten in Zukunft berücksichtigt werden sollte. (Zu den Auswirkungen von Hitze während der Arbeitszeit siehe Teil 1 dieser Serie.)

Hitze erfordert bei vielen chronisch Kranken auch das Anpassen der Medikamente und der Medikamenten-Dosis, vor allem von einigen Blutdrucksenkern, Antidepressiva, Beruhigungs- und Schlafmitteln. Eine mögliche Folge der zunehmenden Außentemperaturen ist nämlich, dass der Körper die Wirkstoffe langsamer verstoffwechselt und ausscheidet, so dass die Pillen plötzlich länger wirken – oder je nach Wirkstoff auch kürzer und damit stärker. „Es ist gerade in großen Unternehmen mit mehreren Tausend Beschäftigten schwierig, die Gefährdeten herauszufinden, die man berät und denen man dann zum Beispiel einen Brief an ihren Hausarzt mitgibt“, sagt Boßlet. Die Arbeitgeber wissen ja meist nicht, unter welchen Gesundheitsproblemen die Angestellten leiden, obwohl sie Auswirkungen auf die Aufgaben in der Firma haben können. „Bei meinen Sprechstunden im Betrieb versuche ich jede und jeden wenigstens alle drei Jahre zu sehen.“

Beratung zur Gesundheit – und zum Klima

Was die Werksärztin dann auch macht, ist eine klimasensible Gesundheitsberatung – und zwar aus eigener Initiative, eine zusätzliche Bezahlung dafür bekommt sie nicht. „Gerade die Themen Ernährung und Bewegung auf dem Arbeitsweg bieten sich doch geradezu dafür an, die vielen Vorteile einer Win-Win-Win-Situation darzustellen.“ Nutzen Menschen zum Beispiel im Alltag wie auf dem Weg zur Arbeit vermehrt die eigenen Füße oder ein Fahrrad, bringen sie nicht nur Kreislauf und Bewegungsapparat in Schwung, sie bekämpfen auch ihr Risiko für Depression – und stoßen weniger Treibhausgase aus. Zu genau solchen Themen gibt Boßlet auch in ihrem Berufsverband Informationen weiter.

Sich anders zu ernähren, zumindest damit zu beginnen, angelehnt etwa an die sogenannte planetary health diet, nützt vor allem der Gesundheit jedes und jeder Einzelnen. Der Essensplan enthält dann viel mehr Gemüse, Hülsenfrüchte, Vollkorngetreide und Nüsse als weithin üblich, dafür aber weniger Fleisch, Milchprodukte und Zucker. Eine solche Veränderung der Ernährungsweise ist nicht nur für die jeweilige Person gesundheitsfördern, sondern hat auch positive globale Rückwirkungen: Denn nach diesem Rezept könnten zehn Milliarden Menschen im Jahr 2050 genug zu essen bekommen, ohne dass die Landwirtschaft zur Zerstörung des Planeten beiträgt. „,Nebenbei tun Sie noch etwas fürs Klima‘, sage ich den Menschen in der Praxis dann“, so Boßlet.

Die Planetary Health Diet wurde von internationalen Wissenschaftlern entwickelt und ist sowohl gesund als auch umwelt- und klimaschonend; Grafik: Tegut

Immer mal wieder stößt sie dabei auf absolute Fleischverfechter, ebenso wie sie Impfgegner in der Sprechstunde trifft. „Aber viele sind offen für solche Hinweise und für den Austausch. Und das gilt inzwischen auch für viele Betriebe. Als ich in der Coronazeit meine Praxis übernommen und mit der klimasensiblen Gesundheitsberatung begonnen habe, wollten das viele Unternehmen nicht. Aber das hat sich geändert.“

Denn auch für die Arbeitgeberseite spielen Fachleute wie Boßlet eine wichtige Rolle. „Für Unternehmen ist es wichtig, dass ausreichend Betriebsärztinnen und Betriebsärzte verfügbar sind, um den Gesundheitsschutz der Beschäftigten zu gewährleisten, selbstverständlich auch wenn Unternehmen Arbeitsschutzmaßnahmen zur Klimawandelanpassung beispielsweise bei Hitze oder UV-Schutz treffen“, sagt Sebastian Riebe von der BDA (Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände). „Digitale Angebote können die betriebsärztliche Versorgung flexibler und effizienter machen.“ Allerdings sei es herausfordernd für Unternehmen, mit der knappen Verfügbarkeit an Betriebsärzten die gesetzlichen Anforderungen an die betriebsärztliche Versorgung sicherzustellen.

Arbeitgeber hätten die Pflicht, ihre Beschäftigten vor Gefährdungen aus den Arbeitsbedingungen zu schützen, ergänzt Riebe, beispielsweise auch, wenn diese aus dem Klimawandel resultieren. Die Beschäftigten müssten zudem mit Eigenverantwortung reagieren und Schutzmaßnahmen umsetzen. Dafür brauche es auch eine bessere Aufklärung und mehr Gesundheitskompetenz.

In der Tat sind die Gesundheitsaspekte des Klimawandels in der Fachwelt inzwischen nicht nur unbestritten, sondern auch zu einem wichtigen Thema geworden, weil sich hier der Zustand des Planeten, die Lebensweise der einzelnen Menschen sowie die Strukturen, die diese prägen, berühren. Und auch das Wortpaar Klimawandel und Arbeitswelt, um das diese Artikelserie kreist, erfährt durch „Gesundheit“ in der Mitte eine noch stärkere Bindung als bisher.

Längst wirken sich die globalen Veränderungen der Erderhitzung darauf aus, wie Firmen die Gesundheit ihrer Belegschaften schützen. Der werksärztliche Dienst ist dabei nur ein Aspekt, ihn anzubieten ist für Unternehmen genauso Pflicht wie der Arbeitsschutz (siehe zum Beispiel Serienteil 1), mit dem sie Gefährdungen bei der Arbeit analysieren und angemessen gegensteuern müssen. Freiwillig hingegen ist das System der betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF): Sowohl Firmen wie Angestellte beteiligen sich an den Angeboten nur dann, wenn sie selbst es wollen.

 

Krankenkassen müssen per Gesetz mehr als drei Euro pro Versichertem und Jahr für die betriebliche Gesundheitsförderung ausgeben. 2023 kamen so fast 269 Millionen Euro zusammen – ziemlich viel Geld

 

Wer aber mitmachen muss, das sind die Krankenkassen. Das Gesetz schreibt ihnen vor, jedes Jahr mindestens 3,15 Euro pro Versichertem für Angebote zur betrieblichen Gesundheitsförderung auszugeben. Laut dem GKV-Präventionsbericht des Spitzenverbandes der gesetzlichen Kassen waren es 2023 sogar 3,62 Euro bzw. insgesamt fast 269 Millionen Euro. Das ist ziemlich viel Geld. Erreicht haben die Versicherungen damit knapp 30.000 Unternehmen und etwa 2,2 Millionen Beschäftigte. Die Stoßrichtung hierbei ist, das Verhalten und die Verhältnisse zu verbessern. Inhaltlich geht es häufig um Bewegungsförderung, Stressbewältigung und psychosoziale Ressourcen sowie gesundheitsgerechtes Verhalten von Führungskräften (weitere Details siehe Kasten).

Im Prinzip loben auch die Arbeitgeber das Instrument der betrieblichen Gesundheitsförderung und klopfen sich selbst auf die Schultern: Fast die Hälfte der Kosten übernähmen die Firmen, stellt ein Positionspapier vom Oktober 2021 fest (die Ausgaben lassen sich steuermindernd geltend machen). Die Unternehmen fürchten jedoch, dass die BGF von einer freiwilligen zu einer verpflichtenden Aufgabe werden könnte: In den Worten von Sebastian Riebe von der BDA: Viele der Risiken lägen „kaum in der Verantwortung des Arbeitgebers. Er kann ja nicht beeinflussen, wie gesund jemand lebt“. Handlungsempfehlungen für die Unternehmen und die Beschäftigten seien zwar willkommen, neue Vorschriften für die Wirtschaft aber nicht.

Die enge Beziehung von Klima und Gesundheit, die Bedeutung für Arbeit wie Alltag und das große Budget der Krankenkassen machen betriebliche Gesundheitsangebote zu einem sehr wichtigen Instrument, Information zu verbreiten und Menschen zu erreichen. Um deren Resilienz gegen wachsende Gefahren zu stärken, „müssen Unternehmen und Mitarbeitende flächendeckend für die gesundheitlichen Risiken der Klima- und Umweltkrise und auch über entsprechende Chancen, die sich durch Co-Benefits ergeben können, sensibilisiert werden“, stellt das Strategiepapier der Betriebskrankenkassen und von KLUG von 2023 fest. Schließlich sei die Arbeitswelt mit rund 45 Millionen Beschäftigten ein großes Reservoir für die Förderung der planetaren und menschlichen Gesundheit. Und: „Studien zeigen, dass klimabezogene Gesundheitskompetenz die Bereitschaft für Verhaltensänderungen erhöht, die Klima, Umwelt und Gesundheit schützen.“

"Veganuary Workplace": Ikea, die Deutsche Bahn und 23 Studierendenwerke setzen vegane Speisen auf die Karte

Auf dem Feld der klimasensiblen betrieblichen Gesundheitsförderung herrscht so etwas wie Aufbruchsstimmung. Der Präventionsreport des GKV-Spitzenverbands zum Beispiel hat im Berichtsjahr 2023 zum ersten Mal erhoben, ob in den geförderten Maßnahmen bei Planung oder Durchführung schon Klimaschutz oder Klimaanpassung eine Rolle spielten: Das war bereits bei 53 Prozent der Projekte der Fall.

Auch der Ende Dezember 2024 veröffentlichte GKV-Leitfaden Prävention, der Handlungsfelder, Qualitätskriterien und Mindeststandards für eine gesetzeskonforme Umsetzung der bezuschussten Gesundheitsförderung definiert, erwähnt inzwischen das Konzept der planetaren Gesundheit sowie den Klimawandel als Querschnittsthema. Allerdings behandelt er die drei großen Bereiche der Präventionsmaßnahmen – die individuellen Angebote, die sogenannten Lebenswelten wie Kommunen oder Bildungseinrichtungen und schließlich die betriebliche Gesundheitsförderung – sehr unterschiedlich. Vom „Klimawandel“ ist im Kapitel zur BGF nicht die Rede, auch nicht von „Umwelt“. Lediglich im Zusammenhang mit der Verpflegung im Arbeitsalltag werden an einer Stelle „gesundheitsförderliche und ökologisch nachhaltige Lebensmittel“ als Ziel benannt.

Alle drei Programmlinien unterliegen indes den gleichen Bedingungen. Und für alle drei gilt der Satz aus der Präambel: „Wegen der Abhängigkeit der menschlichen Gesundheit von den lebensfördernden Ökosystemen sollen Gesundheitsförderungs- und Präventionsleistungen der GKV möglichst so ausgerichtet werden, dass sie mittelbar dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zugutekommen.“

„Es ist eine tolle Entwicklung“, sagt Ines Rogge von der Krankenkasse BKK mkk – meine krankenkasse. „Wir bekommen einen wichtigen Anschub, wenn unsere Handlungsfibel das Thema aufgreift. Es lag ja immer schon nahe, Klima und Gesundheit zusammenzudenken.“ Auch die Unternehmen würden mutiger und engagierter, weil sie anfangen, die Querverbindungen zwischen dem Ziel Nachhaltigkeit und Klimaschutz sowie klassischen Themen der betrieblichen Gesundheitsförderung wie Ernährung und Bewegung zu verstehen. „Sehr wichtig ist dabei, dass das Teil der Firmenkultur wird, dass es eher inspirierend und motivierend statt belehrend daherkommt, und dass die Führungskräfte eingebunden werden. Nach dem Motto: Tragt das in Eure Teams und nehmt möglichst selbst daran teil.“ Über die Aktivitäten in ihrem eigenen Betrieb berichtet Rogge in einem Artikel für das Magazin des BKK-Dachverbands.

 

„Der Veganuary ist eine gute Gelegenheit, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass wir mit einer rein pflanzlichen Ernährung einen Beitrag zur Reduzierung unseres persönlichen CO2-Fußabdrucks und somit zum Schutz des Klimas und der Biodiversität leisten können“

 

In den Zusammenhang passen auch die neudeutsch oft Challenges genannten Kampagnen oder Wettbewerbe, die von Krankenkassen begleitet werden können und an denen sich Firmen beteiligen, weil es in ihr Betriebliches Gesundheitsmanagement passt. Zum Beispiel die Veganuary Workplace Challenge, bei der die Teilnehmenden jeweils im Januar ganz oder teilweise auf tierische Lebensmittel verzichten. Mehr als tausend Unternehmen hätten sich 2024 an der Kampagne beteiligt, bilanzierte die gleichnamige Non-Profit-Organisation hinterher, teilweise auch mit Aktionen fürs breite Publikum: Ikea, die Deutsche Bahn und 23 Studierendenwerke brachten vegane Speisen in ihren Restaurants und Mensen, Lebensmittel- und Handelskonzerne nahmen vegane Produkte ins Programm.

130 Firmen hatten formal die Challenge angenommen, darunter die Drogeriekette Rossmann, Stadt und Fußballverein in Leverkusen, Puma, Edeka, Lebensmittelkonzerne wie Kühne und Dr. Oetker, Targo- und Commerzbank, die Ergo-Versicherung und das Internetportal „Kleinanzeigen.de“.

2023 war auch der Modekonzern Gerry Weber in Halle/Westfalen dabei gewesen. „Der Veganuary,“ ließ sich damals die Geschäftsführerin Angelika Schindler-Obenhaus zitieren, „ist eine gute Gelegenheit, nochmals das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass wir mit einer rein pflanzlichen Ernährung einen Beitrag zur Reduzierung unseres persönlichen CO2-Fußabdrucks und somit zum Schutz des Klimas und der Biodiversität leisten können.“ Sicherlich, räumt Ines Rogge von der mkk ein, machen dabei primär Menschen mit, die ohnehin mit dem Gedanken spielen, ihre Ernährung umzustellen, und die die Gelegenheit nutzen, es auszuprobieren. „In jedem Fall hilft es, Vorurteile abzubauen, und eine hohe Quote der Teilnehmenden bleibt danach in irgendeiner Form dabei.“

Wie man mit Sport bedrohte Moorflächen rettet

Andere Challenges machen die Bewegung zum Thema, etwa wenn sich Abteilungen oder ganze Firmen ein ehrgeiziges Ziel setzen, wie viele Kilometer Fahrrad die Belegschaft in einem Aktionszeitraum fährt. Eine neue Idee, sagt Rogge, ist der Moorathon der gemeinnützigen Organisation missiontomarsh.org: Jede gezielte Bewegung im Rahmen der Kampagne, ob joggend oder mit dem Rollstuhl, lassen die Teilnehmenden dabei von der App „Summitree“ erfassen – erreichen sie bestimmte Streckenziele, wird ein Quadratmeter gesundes Moor geschützt oder zerstörtes renaturiert. In der App gibt es noch weitere Herausforderungen. Ihre Betreiber versprechen zum Beispiel für jeweils 40 Kilometer Joggingstrecke einen Baum zu pflanzen. Finanziert wird das von Spenderinnen und Sponsoren. „Das Spannende dabei ist, dass die Effekte für Klima und Umwelt hier explizit mit der Gesundheitsförderung verknüpft werden“, sagt Rogge.

Während die Krankenkassen bei solchen Challenges eher beratend und begleitend dabei sind, fördern sie auch „richtige“, also geprüfte und klimasensible Maßnahmen– zum Beispiel Präventionskurse zum Stressmanagement im Wald. Angeboten werden die etwa von Kristin Köhler und ihrer Organisation verde-gesund.de. „Bei einem Ein- oder Zweitages-Kurs im Wald beginnt schon nach zehn Minuten, das Stresshormon-Niveau zu sinken“, sagt Köhler. „Andere Strukturen zu sehen, andere Luft zu atmen, hilft sehr. Die Natur findet bei Vielen im Alltag überhaupt nicht statt.“ Die Teilnehmenden sollen lernen, die Natur wieder wahrzunehmen, zu identifizieren und wertzuschätzen. „Wichtig ist aber, das Erlebnis nicht nur als grünen Wellness-Raum anzusehen, sondern es in die Gedanken von Netzwerk und Nachhaltigkeit einzubetten. Natur ist nicht nur nice-to-have, sondern ein Lebensprinzip.“

Moorathon 2024

Die Teilnahme an sportlichen Wettbewerben, neudeutsch: Challenges, sind ein beliebtes Mittel der betrieblichen Gesundheitsförderung – zum Beispiel der Moorathon 2024; Foto: Mission to Marsh

Solche Erfahrungen können Vorteile auf drei Ebenen bringen: für die eigene Gesundheit, wenn Menschen spüren, wie gut es ihnen tut, und wenn sie neue Gewohnheiten etablieren. Aber auch für die Firma, wenn ein Arbeitsteam gemeinsam im Wald erfährt, wie Nachhaltigkeit oder Kreislaufwirtschaft dort funktioniert. „Oft beginnt dann schnell eine Diskussion, was das Prinzip Cradle-to-Cradle denn für das eigene Unternehmen bedeuten würde“, hat Köhler beobachtet. Und davon profitiere schließlich auch die Gesellschaft: „Naturverbundenheit ist ein wichtiger Prädiktor für umweltgerechtes Verhalten.“

Hier spiegelt sich auch eine Grunderkenntnis der Klimaforschung: Eine Anpassung der Gesellschaften und der Individuen an die unvermeidbaren und schon eingetretenen Folgen der Klimakrise ist unverzichtbar – dazu gehört, auf die eigene Gesundheit zu achten und vermehrte Risiken zu erkennen. Aber das bleibt auf Dauer unzureichend, wenn nicht zugleich die Ursache der Klimakrise bekämpft wird, die Emissionen sinken und der Raubbau an der Natur endet.

Wie Nachhaltigkeit und Gesundheit zusammenpassen

Solche Erkenntnisse legen es für viele Fachleute nahe, den Rahmen noch größer zu spannen, und im nächsten Schritt das klimabewusste Gesundheitsmanagement mit den Nachhaltigkeits- und Klimaschutzbemühungen zu verknüpfen. „Es gibt einen großen Bedarf und viele mögliche Synergien“, sagt Michael Blum vom Dachverband der Betriebskrankenkassen, „aber in den meisten Unternehmen sind die entsprechenden Abteilungen bzw. Zuständigkeiten getrennt und wissen nicht viel voneinander.“

Auch bei dieser Annäherung kann das Prinzip der planetaren Gesundheit als Leitkonzept dienen. Der Verband, bei dem Blum arbeitet, hat darum im Mai 2024 in Berlin eine Veranstaltung ausgerichtet, die von beiden Seiten Licht auf die Frage warf (hier ist eine Videoaufzeichnung verfügbar). Dort berichtete unter anderem Veronika Winter von der Firma Vetter-Pharma von der Entwicklung in ihrem Unternehmen. Es hat seinen Sitz in Ravensburg am Bodensee und füllt unter anderen Phiolen und Fläschchen für Hersteller von injizierbaren Medikamenten und Impfstoffen ab. Winter ist dort als Abteilungsleiterin für BGM verantwortlich und hat nach eigenen Worten dort zunächst professionalisiert, was dem Familienunternehmen immer schon wichtig gewesen sei: „dass es den Menschen gut geht“.

Der Schub zur Nachhaltigkeit hingegen sei für das Pharmaunternehmen zunächst schwierig gewesen, unter anderem weil es wegen des Zwangs zur Hygiene einen erhöhten Materialverbrauch hat. Im Laufe der Analyse hat sich die Firma unter anderem die Liste der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDGs) vorgenommen und überlegt, welche Abteilung mit welchem der Punkte etwas zu tun hat und einen Beitrag leisten kann. Auch Winters eigene Abteilung konnte einiges beisteuern. „Das war mir selber auch gar nicht so bewusst. Aber wenn man sich damit auseinandersetzt, sieht man, welchen Impact man eigentlich auch hat. Das hat dann schon sehr motiviert.“ Aber es sei insgesamt eine „Lernreise“ mit vor und zurück und Momenten des Durcheinanders gewesen.

Das Ergebnis der Analyse war ein Nachhaltigkeitszirkel, der sich regelmäßig trifft und der überraschend viele Mitglieder hat. Von den erwartbaren Unternehmensteilen wie Umwelt-, Gesundheits- und Arbeitsschutz, Technik, Einkauf und Vetters BGM reicht das Spektrum bis zum Marketing, der Rechtsabteilung, dem Referat für Finanzplanung und dem für Personalentwicklung. „Das sind so viele Disziplinen, und es war natürlich auch die Hürde, die alle unter einen Hut zu bringen“, erinnert sich Winter. Inzwischen ist das System aber etabliert und hat Vetter-Pharma einige Preise eingebracht.

Familienunternehmen haben es dabei oft leichter, weil sie ohnehin einen langfristigen, über Generationen angelegten Blick auf das Geschäft haben. „In vielen Konzernen zählen bisher hingegen vor allem kurzfristige Erfolge, da ist nachhaltiges Denken einfach nicht attraktiv“, sagt Sarah Rietze, eine Organisations-Psychologin vom Kollektiv Regenerative in Leipzig.

Viele Unternehmen seien aber inzwischen dazu gezwungen, sich zu verändern, weil Regularien es fordern, Geschäftspartner, Kunden oder Investoren es erwarten, weil die Firma sonst keine guten Leute mehr findet oder ihr Geschäftsmodell nicht mehr in die Zukunft retten kann. „Solche Unternehmen brauchen dann einen Kulturwandel, und den kann man nicht nach unten an die Mitarbeiter:innen delegieren“, sagt Rietze. „Wenn das nicht vor allem von oben getragen und glaubhaft verkörpert wird, kommt es eben nicht zum Wandel. Je höher die Führungskräfte stehen, desto größer ist ihr Hebel, Normen zu definieren und Ziele zu setzen.“

Die Veränderung braucht dann auch Zeit, bis alle Beteiligten verstehen, dass Anerkennung und beruflicher Erfolg in der Firma jetzt auf neuen Prioritäten beruhen. Sollte bisher Initiative von unten in dem Betrieb nicht honoriert worden sein, sagt Rietze, „dann muss es für die Belegschaft auch einen geschützten Raum und die psychologische Sicherheit geben, sich auszutauschen, die Position zu bestimmen und Vorschläge zu formulieren“.

Nachhaltigkeit ist auch ein Wettbewerbsvorteil bei der Suche nach Fachkräften

Eine zentrale Rolle können dabei die Personalabteilung und das Anwerben junger Mitarbeiter spielen. Den jungen Erwachsenen nämlich sind Nachhaltigkeit und Klimaschutz sehr wichtig, wie zum Beispiel 2022 eine Umfrage im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zeigte. Besonders den innovativen Unternehmen trauen mehr als 80 Prozent von ihnen eine Schlüsselrolle für eine nachhaltige Entwicklung zu. Und fast die Hälfte sieht es als zentral an, mit ihrer Arbeit im Beruf dazu beizutragen. 52 Prozent ist es darum sehr wichtig oder wichtig, dass ihr Arbeitgeber einen Beitrag zur Gesellschaft leistet, 42 Prozent erwarten einen Beitrag zum Klimaschutz.

Dafür sind Nachwuchskräfte einer anderen Untersuchung zufolge auch bereit, geringere Gehälter zu akzeptieren. Auch wenn die obersten Prioritäten von Studie zu Studie etwas schwanken, bleibt doch stets mindestens eine große Minderheit zu erkennen, die mit ihrer Arbeit auch Umwelt- oder Gesellschaftsziele verbindet. Und junge Frauen sind in der Regel noch einmal deutlich engagierter als junge Männer.

Blicken diese jungen Leute aber nach der Ausbildung auf das Angebot von Stellen und Firmen, finden sie ihre Präferenzen kaum abgebildet. „Bei 80 Prozent des klassischen produzierenden Mittelstands, spielt das Thema überhaupt noch keine Rolle“, sagt Hendrik Zaborowski, ein unabhängiger Personalberater, in einer Interview-Reihe von Sarah Rietze und dem Kollektiv Regenerative. Dementsprechend hätten auch die Personal-Fachleute „null Ahnung“, aber das dürfe nicht so bleiben: Nachhaltigkeits-Beauftragte seien daher in einer Bringschuld, die Personaler zu informieren und eine firmeninterne Allianz zu schmieden. „Wenn Ihr als Arbeitgeber in Zukunft noch Leute finden wollt, dann solltet Ihr Euch mal mit dem Thema [Nachhaltigkeit] beschäftigen“ mahnt Zaborowksi. Und dass ein potenzieller neuer Arbeitgeber an seinem Engagement für Umwelt und Gesellschaft gemessen werde, gelte zunehmend auch für erfahrene Führungskräfte, die mit 45 oder 50 Jahren eine neue Aufgabe suchen.

Für Firmen, die noch kaum Erfolge oder gar Unternehmenspreise auf dem Gebiet vorzuweisen haben, hat Zaborowski folgenden Rat: In Stellenanzeigen und Bewerber:innen-Interviews den Wandel in Richtung Nachhaltigkeit als Prozess darzustellen. Nach dem Motto: „Wir machen uns auf den Weg, und je mehr Du mitbringst, desto besser.“

 

„Wenn Ihr als Arbeitgeber in Zukunft noch Leute finden wollt, dann solltet Ihr Euch mal mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigen“

 

So zeigt sich, dass gerade diejenigen Abteilungen in Unternehmen, die mit den Menschen zu tun haben, eine zentrale Rolle für Klimaschutz und Nachhaltigkeit in der Arbeitswelt besitzen. Das gilt von der Suche nach neuen Mitarbeitenden und der Weiterbildung der vorhandenen über die Nachhaltigkeitsfachleute bis zu Arbeitsschutz und einer Gesundheitsförderung, die auch die neuen Risiken für die Belegschaft ernstnimmt. Menschen sind eben – das lassen aktuelle Nachrichten zur Wirtschaftskrise oft vergessen – nicht im Wesentlichen Kostenfaktoren für Unternehmen, sondern sie können neben Arbeitskraft auch Engagement und Ideen mitbringen. Und damit ihre oft deutlich erkennbaren Wünsche nach einer Veränderung der Gesellschaft im Rahmen der Klimakrise in produktive Bahnen lenken.

Die Recherche dieser Artikelreihe hat insgesamt eine breite Vielfalt von Möglichkeiten enthüllt, mit denen Unternehmen und Beschäftigte auf die Klimakrise und die kommende große Transformation reagieren. Alle Beteiligten müssen sich darauf einstellen, dass zunehmende Extremwetter-Ereignisse die Abläufe stören und neue Gefahren auslösen, die dann auch den Arbeitsschutz und die Arbeitssicherheit berühren. Methoden, Energie und Emissionen einzusparen, verlangen oft Umstellungen und lösen zunächst Ungewissheit und Sorgen aus. In all diesen Fällen ist ein zentrales Erfolgsrezept die Kommunikation: in den Betrieben über Ziele und Ideen, zwischen Unternehmen über gute erste Schritte, Vorbilder, bewährte Konzepte und vermeidbare Umwege, und in der Gesellschaft über eine attraktive Zukunft, die alle gemeinsam erreichen können.

 

#BetriebsKlima – die anderen Teile der Serie: