Simone Regina Adams arbeitet als Autorin und als Psychotherapeutin in eigener Praxis in Freiburg. Nach drei Romanen (erschienen u.a. im Aufbau Verlag) schreibt sie inzwischen vor allem Essays zu Klima, Kommunikation und gesellschaftlichem Wandel, unter anderem auf sonnenseite.com von Franz Alt und auf freitagsplastikfrei.de

 

Vor zwei Wochen erschien an dieser Stelle ein Text des britischen Umweltpsychologen Darrick Evensen mit dem Titel "#FridaysForFuture: Die richtigen Ziele, aber die falschen Worte". Ich möchte mit vier Grundgedanken antworten:

1. Es geht nicht um Greta Thunberg oder um Fridays for Future. Es geht um uns alle

Einem Hund etwas zeigen zu wollen, das sich in unmittelbarer Nähe befindet, ist aussichtlos: Man kann noch so oft darauf deuten, er schaut immer nur auf die ausgestreckte Hand. Vielleicht sieht er einem auch kurz ins Gesicht – und dann wieder zurück zur Hand. Es ist unmöglich, ihn dazu zu bringen, dass er in die gleiche Richtung schaut wie man selbst. Daran muss ich immer wieder denken angesichts der Diskussionen über Greta Thunberg. Sie versucht (und mit ihr die "Fridays for Future"-Bewegung), klar und dennoch drängend auf den möglichen Klimakollaps und sich allmählich schließende Zeitfenster hinzuweisen. Und alle starren auf Greta. Was sie sagt. Was sie trägt. Wie sie reist. Statt sich mit den dringlichen Fragen auseinanderzusetzen und ins Handeln zu kommen.

Genau das ist wohl die – mehr oder weniger bewusste – Funktion dieser Diskussionen. Nichts von dem, was "Fridays for Future" sagen, ist nicht schon von unzähligen anderen ebenso deutlich gesagt worden (und auch das betonen die jungen Menschen selbst wieder und wieder). Doch es nützt ihnen nicht. Wir sind weiter und noch immer in Abwehr. Es gibt diejenigen, die voller Hass auf Greta Thunberg reagieren, in Netz-Beiträgen, die dermaßen bösartig sind, dass ich sie nicht zu Ende lesen kann. Und es gibt die wohlmeinenden Stimmen, zu denen Darrick Evensen mit seinem Beitrag sicher gehört. Mit seinem "ihr seid Helden, aber ..." stimmt er jedoch in einen Chor ein, den ich für ebenfalls problematisch halte.

Die Botschaft der Kinder und Jugendlichen sei nicht ausgegoren, schreibt Evensen, es fehlten notwendige Nuancen. Das macht mich, ehrlich gesagt, einigermaßen fassungslos. Warum sollten diese jungen Menschen sich auch noch um die Nuancen kümmern? Sie haben ein Bedrohungsszenario vor sich wie keine Generation zuvor. Sie stehen vor der Wahl, sich um ihre Schullaufbahn oder das Studium, also um ihre persönliche Weiter­entwicklung zu kümmern – oder um eine lebenswerte Zukunft für alle zu kämpfen. Mich erschüttert, in welche Situation wir sie gebracht haben. Es ist nicht Aufgabe der SchülerInnen, sondern der Politik und Zivilgesellschaft, jetzt endlich die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, so dass die Welt für sie noch lebenswert sein wird.

2. Die Frage, wer was zuerst tun soll, ist eine Form der Abwehr, die nur das Handeln verzögert

Die jetzt so dringend notwendigen Maßnahmen zur CO2-Reduktion und zum Schutz der Ressourcen – auch das ist im gewissen Sinn erschütternd – sind sehr einfach. Natürlich nicht leicht umsetzbar, weil der Widerstand der wirtschaftlich Profitierenden massiv ist, aber dennoch ist klar, was zu tun ist. Nun schreibt Darrick Evensen: "Die Sprache der jugendlichen Aktivistinnen und Aktivisten behandelt die Wissenschaft wie einen unanfechtbaren Schiedsrichter über die tatsächliche Politik. (…) Mit ihrem wichtigsten Slogan unterstellen die Schülerinnen und Schüler fälschlicherweise, dass die Wissenschaft selbst uns sagen kann, wie Menschen handeln sollten." Natürlich kann sie das, in diesem Fall. 

Sie tut es auch: "Wir müssen aufhören, fossile Brennstoffe zu benutzen", sagt zum Beispiel Alexander Popp, Forscher am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Der letzte IPCC-Sonderbericht plädierte für drei Maßnahmen: Emissionen verringern; CO2 aus der Atmosphäre entziehen, beispielsweise durch Aufforstung oder Kohlenstoffbindung im Boden; Ernährungs­­gewohnheiten ändern und weniger Lebensmittel verschwenden.

#FridaysForFuture-Demonstration in Berlin am 29. März 2019; Foto: Ana Torres/anatorresphotography.com

Die Fragen, die Darrick Evensen in seinem Artikel anführt – wer nun welche Schritte zuerst unternehmen sollte oder müsste – halte ich für müßig. Wir haben uns viel zu lange mit solchen Fragen aufgehalten. Und abgelenkt. Und das Handeln weiter hinausgeschoben. Für mich persönlich ist nicht die Frage, ob ich auf Fleisch verzichte oder aufs Fliegen oder ob ich mit den Jugendlichen demonstriere, so oft ich kann. Jede/r soll beitragen, was möglich ist.

Was geschieht, wenn wir bei 1,5 Grad Erderhitzung, zwei Grad oder mehr landen werden, sagt uns die Wissenschaft: Die Zahl der Natur­katastrophen, der Hungernden und der Klimaflüchtlinge wird weiter steigen, der soziale Zusammenhalt wird zunehmend gefährdet - und das wird uns, vor allem aber die nächste Generation, betreffen. Die Zeit läuft uns davon. Wie Darrick Evensen in dem Zusammenhang zu der Aussage kommt, "auf die Wissenschaft zu hören ist ein erster Schritt, den viele Politiker bereits getan haben", ist mir unbegreiflich. Wie lange schon kämpfen Umweltverbände und Bürger­initiativen für Klima- und Ressourcenschutz, untermauert von wissen­schaftlichen Beobachtungen, Daten und Fakten. Meist gewinnen wirtschaftliche Interessen die Oberhand. Mittlerweile gehen Menschen immer öfter juristische Wege und verklagen zum Beispiel Politiker, die ihrer Fürsorge für die Bürger nicht nachkommen.

Inzwischen ist die globale Bedrohungslage so konkret, dass die Antworten einfach werden: Jede/r Einzelne, jede Partei, jede Nation, die bereit ist, notwendige Schritte zu unternehmen, zählt. Und wir müssen Druck ausüben auf alle politischen Entscheidungsträger, die wir im Rahmen unserer Möglichkeiten erreichen können. Was sonst? 

3. Wir brauchen ein neues Verständnis von Emotionalität

Es hat ein paar Tage gedauert, bis ich begriffen habe, dass meine emotionale Reaktion auf die Gedanken von Darrick Evensen auch mit der fehlenden Emotionaliät seines Beitrags zu tun hat. Natürlich kann man argumentieren, dass Emotionen in einer sachlichen oder wissenschaftlichen Diskussion nichts zu suchen haben. Ich bin jedoch der Ansicht, dass genau diese Haltung ein riesiges immanentes Problem darstellt, in einer Situation, in der es keine objektive Position geben kann. Wir können die Versuchsanordnung nicht von außen betrachten. Wir sind Teil davon.

Unendlich lange haben Klimawissenschaftler auf Zahlen und Fakten hingewiesen. Inzwischen sind viele von ihnen persönlich zutiefst erschüttert und betroffen – und das ist mehr als angemessen. Die australische Klimaforscherin und Mitarbeiterin des IPCC Dr. Joëlle Gergis schreibt, dass sie nach ihren eigenen Vorträgen immer wieder in Tränen aufgelöst ist: "Manchmal schafft es die Realität der wissen­schaftlichen Fakten, den emotional eingefrorenen Teil meiner selbst aufzutauen, den ich sonst für meine Arbeit brauche. In diesen Momenten ist das, was auftaucht, pure Trauer (...) Aber in diesen Tagen schlägt meine Trauer auch um in Wut. Vulkanartige, explosive Wut. Weil in demselben IPCC-Bericht, in dem die Details der bevorstehenden Apokalypse skizziert werden, die Klimawissenschaft eindeutig erklärt hat, dass eine Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 Grad geophysikalisch möglich ist."

Die Emotionalität ist hier kein Fehler, keine Schwäche, sondern dringend notwendig, damit uns die Informationen wirklich erreichen. Es gibt, wenn es um unser aller Überleben geht, auch keine neutrale Position, von der aus wir dies kommentieren können – dieses Problem sehe ich im Journalismus, in den vergangenen Monaten habe ich unzählige Beispiele dazu gesammelt. Das, was wir als nüchtern und objektiv zu be­zeichnen gewohnt sind, ist möglicherweise einfach Teil unserer Abwehr. Ich möchte dies an drei unterschiedlichen Beispielen erläutern:

1. Christopher Caldwell, leitender Redakteur des konservativen US-Wochenblatts Weekly Standard, schreibt in der New York Times im Bezug auf Greta Thunberg: Ihr radikaler Ansatz widerspreche der Demokratie. "Kinder in Gretas Alter haben noch nicht viel vom Leben gesehen." Ihre Weltanschauung sei unrealistisch, "ihre Prioritäten sind aus dem Gleichgewicht geraten". Sich selbst und anderen behält Caldwell vor, "einfach anderer Meinung zu sein, oder andere Prioritäten zu haben."

Die Entscheidung des britischen Guardian, in Artikeln zukünftig den Begriff "Klimakrise" anstelle von 'Klimawandel' zu verwenden und 'Erderhitzung' statt 'Erderwärmung', hält Caldwell für eine "Politisierung der Sprache". Damit negiert er, bewusst oder unbewusst, dass der Begriff 'Klima­wandel' ebenso politisch ist – nur steht er im Dienste einer anderen, beschwichtigenden und verharmlosenden Politik. Wenn man die Klimafakten zugrunde legt, ist der Begriff 'Klimawandel' keineswegs neutraler oder objektiver, sondern schlichtweg weniger zutreffend. Wir befinden uns mitten in einer Klimakrise. Und die Attitüde von Nüchternheit und Unaufgeregtheit verschleiert dies.

2. Ein Gegenbeispiel: "Kein menschliches Wesen würde hier wohnen wollen", twittert Donald Trump Ende Juli 2019 über Baltimore - und nennt die Stadt ein "widerliches, von Ratten und Nagern befallenes Drecksloch". Als CNN-Moderator Victor Blackwell diese Tweets kommentieren will, muss er plötzlich innehalten, er kämpft mit den Tränen und ist sichtlich bewegt. Es ist ein Moment, in dem auch den Zuschauern eindringlich bewusst wird, an welches Ausmaß der Verrohung wir uns bereits gewöhnt haben. Schmerz, Trauer, Betroffenheit sind angemessene und essentiell wichtige Reaktionen auf zunehmende Inhumanität. Eine politische Diskussion ohne diese zutiefst menschliche Antwortfähigkeit wäre unvollständig und würde letztlich Teil des Problems.

#FridaysForFuture-Demonstration in Berlin am 29. März 2019; Foto: Ana Torres/anatorresphotography.com

3. Zurück zu Greta Thunberg – und zu ihrer Rede vor dem EU-Parlament im April 2019: Sie ruft (erneut) dazu auf, in Panik zu geraten: "Eine große Anzahl von Politikern hat mir gesagt, dass Panik niemals zu etwas Gutem führe. Und ich stimme zu. Unnötig in Panik zu geraten, wäre schrecklich. Aber wenn Ihr Haus in Flammen steht und Sie möchten, dass es nicht niederbrennt, ist ein gewisses Maß an Panik erforderlich." Bei der Aufzählung dessen, was bereits alles zerstört und verloren ist, kämpft auch Thunberg mit den Tränen. "Täglich sterben bis zu 200 Arten aus. Fruchtbarer Boden erodiert. Unsere großen Wälder werden abgeholzt. Die Luft ist toxisch verseucht. Die Ozeane versauern. Dies alles sind katastrophale Trends, die durch unsere Lebensweise beschleunigt werden. Und wir, im finanziell bevorzugten Teil der Welt, fühlen uns berechtigt, einfach so weiterzumachen."

In diesem Moment ist Greta Thunberg eine 16-Jähige, die nervös mit ihren Fingern spielt, um Fassung ringt, den unglaublichen Verlust sieht und benennt – und inständig um unsere Hilfe bittet. Schweift die Kamera über die Zuhörenden, sieht man Menschen, denen ebenfalls Tränen in den Augen stehen, Menschen, die sich verschämt die Augen wischen, Menschen, die wie versteinert zuhören und Menschen, die den Moment mit der Handykamera zu bannen versuchen.

Sie alle ringen um ihre Fassung. Was, wenn wir damit einfach einmal aufhören würden? Nur für einen Moment? Sie selbst könnten – was wichtiger wäre, als Beiträge wie diesen hier zu lesen – die Rede zuhause nachhören, innehalten und auf Ihre eigene Resonanz achten. Was steigt auf? Womöglich tiefe Trauer. Schmerz. Scham. Hoffnungslosigkeit. Angst. Vielleicht auch Ärger oder der Wunsch nach Ablenkung und Erleichterung. All das wirkt. In uns allen. Und damit müssen wir umgehen, weil wir sonst nicht zu klaren, bewussten Entscheidungen kommen.

4. Wir brauchen keine weiteren Diskussionen mehr

Man mag Darrick Evensen durchaus zustimmen, dass in diesem Prozess auch ethische, moralische, normative Fragen thematisiert werden müssen. Doch warum soll auch noch diese Aufgabe die Jugend übernehmen? Wiederum begreife ich den Autor nicht, wenn er sagt: "Mein dringlicher Aufruf lautet, dass sie (Fridays for Future) uns helfen, die normativen Gründe dafür zu verstehen, wie und warum wir handeln müssen."

Wir brauchen Kinder, die Erwachsenen erklären, warum diese ihre Lebenswelt nicht völlig zerstören sollten!? Das wäre doch nun wirklich die Aufgabe der Erwachsenen, die endlich den Kampf ums Klima unterstützen müssen. Ohne die "Fridays for Future"-Bewegung mit weiteren Forderungen überfrachten. Sie haben schon genug mit eigenen Zukunftsängsten zu tun, mit dem Hass der Klimaleugner und den Projektionen derer, die sie idealisieren.

Lassen Sie mich, zur Frage der Werte, ein letztes, leider drastisches Bild zitieren. In seinem Roman "Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln" schildert Julian Barnes ein Experiment zu "Altruismus vs. Eigennutz", bei dem Forscher ein Affenweibchen mit seinem Neugeborenen in einen Käfig setzten. "Die Mutter stillte und versorgte ihr Junges noch auf eine Art, die von dem Mutterverhalten der Ehefrauen der Forscher vermutlich nicht allzu verschieden war", so Barnes. "Dann drehten sie an einem Schalter und heizten den Metallboden des Käfigs allmählich auf. Erst hüpfte sie unbehaglich herum, dann fing sie an, von einem Bein auf das andere zu treten und hielt dabei die ganze Zeit ihr Junges in den Armen. Der Boden wurde noch heißer gemacht, der Schmerz der Äffin noch offenkundiger. An einem bestimmten Punkt wurde die Hitze des Bodens unerträglich, und die Äffin musste sich, wie die Experimentatoren es ausdrückten, zwischen Altruismus und Eigennutz entscheiden. Entweder musste sie extreme Schmerzen und vielleicht den Tod erleiden, um ihr Junges zu schützen, oder den Säugling auf den Boden legen und sich daraufstellen, um selbst keinen Schaden zu nehmen. In jedem Fall hatte früher oder später der Eigennutz über den Altruismus triumphiert."

Was ich damit sagen will, ist sicher offensichtlich: Wir dürfen nicht so lange debattieren, bis wir in eine Situation kommen, in der wir nicht mehr über Werte diskutieren können, weil der Überlebensinstinkt längst stärker geworden ist. Die Temperaturen sind schon bedrohlich erhöht. Die globale Situation hat sich drastisch verschärft. Wir müssen akzeptieren, dass das Experiment, das wir mit der ganzen Menschheit veranstaltet haben, gescheitet ist – und es so schnell wie möglich beenden. Damit das gelingt, müssen wir versuchen, emotional und intelligent zu handeln. Und die Bevölkerung mit der Botschaft erreichen, dass auch in unseren Breitengraden das Leben nicht mehr unbedingt lebenswert ist, wenn die schlimmsten Szenarien eintreffen. Diese Erkenntnis ist noch keineswegs zu allen durchgedrungen. 

Genug der Worte. Rechner aus, raus auf die Straße, egal ob mit Fridays for Future, Parents for Future, Scientists for Future, mit Extinction Rebellion, den Umweltverbänden, oder, oder .... am 20. September ist Klima-Streiktag.