Das hab ich nicht gewusst.
Ich war in Eile.
Ich bin nur den Anweisungen gefolgt.
Ich dachte, es kümmert sich jemand anderes darum.
Man konnte nicht davon ausgehen, dass so etwas passieren würde.
Warum immer ich?
Das hab ich total vergessen!
Andere können das genauso gut wie ich, nein, sogar besser!
Ehrlich gesagt: Die haben es nicht besser verdient.
Ich dachte, das ist erst morgen. Das machen andere auch.
Kommt Ihnen das bekannt vor? Wie oft haben Sie sich selbst, oder andere, so reden hören? Viele weitere Erklärungsversuche könnte man anfügen, denn Menschen sind Weltmeister im Geschichten-Erzählen. Und Geschichten ermöglichen es uns, ein kleines Wunder zu vollbringen: etwas Falsches zu tun, ohne das gute Selbstbild zu gefährden.
Nehmen wir an, ich hätte besonderen Spaß an einem für meine Zwecke völlig überdimensionierten SUV, vielleicht weil ich solche Autos einfach super finde, vielleicht weil ich damit ein bisschen angeben kann, oder beides. Wenn ich mir jetzt überlege, einen SUV zu kaufen, muss ich berücksichtigen, dass ich vor mir selbst und anderen möglicherweise als Klimasünder dastehe, was mich vielleicht davon abhält, den Spritschlucker zu kaufen, oder mir zumindest Unbehagen bereitet. Der ideale Moment für eine passende Geschichte. Was, wenn mein SUV kein Problem darstellt, weil er mit sauberem Diesel fährt? Sind die Batterien von E-Autos nicht nachweislich umweltschädlich und E-Autos daher die wahren Umweltkiller? Strom kommt in Deutschland ja ohnehin kaum aus regenerativen Quellen. Ist es nicht auch im Sinne der Sicherheit meiner Kinder, wenn sie „gut geschützt“ zur Schule gefahren werden? Und wäre es nicht auch für unsere Arbeitsplätze fatal, wenn wir unserer „Schlüsselindustrie“ die Kundschaft versagen? Im Grunde ist es doch unverantwortlich, keinen SUV zu fahren …
aus dem Buch "Warum es so schwer ist, ein guter Mensch zu sein" von Armin Falk, erschienen im Siedler-Verlag (336 Seiten, 24 Euro).
Armin Falk, geboren 1968, ist Direktor des Instituts für Verhaltensökonomik und Ungleichheit (briq) und des Labors für Experimentelle Wirtschaftsforschung, sowie Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn. Für seine Forschung wurde er 2008 mit dem Gossen-Preis des Vereins für Socialpolitik und 2009 mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet. Er erhielt zwei ERC Grants sowie den Yrjö Jahnsson Award, die höchste europäische Auszeichnung für Ökonomen, die von der Europäischen Fachgesellschaft verliehen wird.
Immerzu ringt das Gute mit dem Bösen in uns. Einerseits möchten wir vor uns und anderen als guter Mensch dastehen. Dann aber lockt das Böse mit allerlei Versuchungen, mit Geld oder materiellen Vorteilen, mit Privilegien am Arbeitsplatz, gesellschaftlichem Prestige oder sonstigen Annehmlichkeiten. Die Kosten des Anstands und der Moral bestehen genau darin, auf diese Vorteile zu verzichten.
Aber ist immer so ganz eindeutig, worin das Richtige, das Anständige, das Moralische besteht? Kommt es nicht auch auf die Perspektive und die richtige Interpretation an? Kann man immer so genau wissen, was richtig oder falsch ist? Gibt es nicht unterschiedliche Ansichten und Meinungen darüber, was von uns erwartet wird?
Diese kleinen Unsicherheiten bergen ein teuflisches Potenzial. Es ist die Stunde der Narrative, der Deutungen und Umdeutungen. Wenn ich eine Geschichte erzählen kann, wieso das vermeintlich Richtige doch eigentlich selbst fragwürdig oder gar falsch ist, dann kann ich vor mir und anderen vielleicht rechtfertigen, das eben nur vermeintlich Falsche zu tun. Wenn Narrative die Welt so zu deuten imstande sind, dass ich das Egoistische tue, ohne dass es so aussieht oder scheint, dann genau vollbringen sie das erwähnte Wunder. Dann lebe ich in der besten aller Welten: Ich kann ungerührt den Vorteil der egoistischen Tat einheimsen, ohne dabei mein Image aufs Spiel zu setzen.
Geschichten erzählen ist menschlich. Wir erzählen sie uns und anderen, um unsere Erfahrungen und unsere Existenz zu interpretieren. Sie helfen uns dabei, eine Vorstellung von Realität zu gewinnen. Ohne Geschichten sind wir nicht imstande, Sinn zu konstruieren und uns in der Lebenswelt zurechtzufinden. Sie vermitteln uns einen Begriff davon, woher wir kommen, was wir uns wünschen oder wozu wir bestimmt sind. Manche Persönlichkeitspsychologen beschreiben die Rolle von Narrativen deshalb als integralen Bestandteil unserer Identität. Unsere Lebensgeschichten prägen unsere Vorstellung davon, wer wir sind. Oder anders gesagt: Wir sind, was wir über uns erzählen. Geschichten beispielsweise von Aufstieg (vom Tellerwäscher zum Vorstand…), schwerer Kindheit (in der Zeit nach dem Krieg…), widrigen Umständen (meine Eltern hatten nie Zeit für mich, wer weiß, was aus mir hätte werden können…) oder beruflichen Erfahrungen (ich als deutscher Beamter…) formen unsere Vorstellungen von uns selbst.
"Wenn Narrative die Welt so zu deuten imstande sind, dass ich das Egoistische tue, ohne dass es so aussieht, dann lebe ich in der besten aller Welten: Ich kann ungerührt den Vorteil der egoistischen Tat einheimsen, ohne dabei mein Image aufs Spiel zu setzen"
Geschichten spielen aber auch kulturell eine bedeutsame und prägende Rolle, als Merkmale und Vergewisserung von kultureller Identität und Zugehörigkeit. Alle Kulturen haben ihre eigenen Geschichten vom Anfang der Welt, vom Sitz der Götter, haben ihre Märchen, Sagen und Heldengeschichten. Gerade religiöse Geschichten, ihre Plots und Protagonisten können benutzt werden, moralisch fragwürdige Dinge zu tun.
Für unsere Fragestellung spielen Narrative eine wichtige Rolle, weil sie prosoziales Verhalten beeinflussen können: Wenn wir moralisch handeln, wägen wir immer Kosten und Nutzen miteinander ab. Einerseits schöpfen wir Befriedigung daraus, anderen zu helfen, zu kooperieren, kurzum: Gutes zu tun. Andererseits entstehen uns dabei Kosten, sei es in Form von Geld, Aufmerksamkeit oder Zeit, die wir für die gute Tat aufwenden. Exkulpierende Geschichten setzen an beiden Stellen an. Sie können uns davon überzeugen, dass der Nutzen der moralischen Handlung „in Wahrheit“ gar nicht so groß ist. Oder dass die Kosten „unzumutbar hoch“ sind, niemand also eine solche Handlung von uns ernsthaft erwarten kann. Alle Geschichten, die uns vor uns selbst und vor anderen „gut“ aussehen lassen, obwohl wir das Falsche tun, leisten das. Sie erzählen davon, dass angeblich Bedürftige „eigentlich nicht bedürftig“ sind, dass sie „selbst schuld“ seien oder es „nicht besser verdient“ haben. Dass die moralisch gewünschte Handlung ja eigentlich „nichts bewirkt“ oder ich ohnehin „nichts ausrichten“ kann und sie daher sinnlos ist. Oder eben deshalb nicht recht und billig ist, weil sie uns unzumutbar viel kostet.
Woher kommen diese Geschichten? Zum einen produzieren wir sie selbst, indem wir die Welt um uns in einer für uns selbst vorteilhaften Art und Weise interpretieren und deuten. Wir überzeugen uns davon, dass wir das Richtige tun, indem wir selektiv Informationen aktualisieren und erinnern, uns also die Realität schönreden. Aber Geschichten werden auch von Politikern, Lobbyisten und Interessengruppen professionell produziert, mit dem Ziel, Deutungsschemata in die Welt zu setzen, um bestimmte Verhaltensweisen zu fördern oder zu hemmen. Denken wir an die jahrzehntelangen Kampagnen der Tabakindustrie, die – wider besseres Wissen – die gesundheitliche Unbedenklichkeit des Tabakkonsums propagiert haben. Oder die Agrar- und Landwirtschaftsverbände, die uns in puncto Tierwohl und Umweltverträglichkeit ein Märchen nach dem anderen auftischen. Oder die Öl- und Kohlelobby, die uns lange weismachen wollte, Klimaerwärmung sei ein natürliches Phänomen. Wider besseres Wissen, wie etwa der Fall Shell belegt. Diese Geschichten werden – oft als Expertisen getarnt – in Umlauf gebracht mit dem Ziel, Falsches zu beschönigen und zu rechtfertigen.
"Viele dieser exkulpierenden Geschichten sind objektiv falsch. Sie sind konstruiert, erfunden und unwahr. Aber es reicht, dass sie plausibel klingen, wahr sein könnten und leicht zu kommunizieren sind"
Damit Geschichten dieser Art erfolgreich sind, müssen wir sie nicht nur glauben (was uns oft leichtfällt, da sie unser eigenes Fehlverhalten entschuldigen); wir müssen sie auch weitererzählen. Das ist ein wichtiger Punkt. Wir selbst tragen Verantwortung, indem wir im Freundes- und Bekanntenkreis Geschichten verbreiten, sei es im Gespräch oder über Social Media. Vielleicht helfen sie uns, vor anderen in einem günstigen Licht zu erscheinen. Aber gleichzeitig unterstützt die Verbreitung von Geschichten auch andere bei dem Versuch, ihr Fehlverhalten zu legitimieren. Die sie wiederum weitertragen. So verbreiten sich Geschichten wie ein Flächenbrand und schaden dem Gemeinwohl.
Viele dieser exkulpierenden Geschichten sind objektiv falsch. Sie sind konstruiert, erfunden und unwahr. Aber es reicht, dass sie plausibel klingen, wahr sein könnten und leicht zu kommunizieren sind. Damit sie plausibel klingen, brauchen Geschichten einen inhaltlichen Kern, etwas, das den Erzähler (scheinbar) auf Augenhöhe mit den Vertretern der Gegenmeinung hebt, eine Referenz, einen halbwegs objektivierbaren Bezug. Es reicht uns nicht zu sagen: „Das sehe ich anders“ oder: „Das finde ich doof.“ Eine Begründung muss her und sei sie noch so fadenscheinig. Ein Argument, aus dem sich eine gewünschte Handlungsfolge ableiten lässt. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, dem Geschmack leider ebenso wenig und der Redlichkeit ohnehin nicht.
Beliebt sind zum Beispiel Verweise auf (oftmals frei erfundene) Zahlen und „Fakten“ oder aus dem Zusammenhang gelöste oder falsch interpretierte Statistiken. Verwiesen wird auch gerne auf angebliche „Experten“ (Dr. X hat gezeigt) oder „Studienergebnisse“ mit angeblichen Belegen für den jeweiligen Anlass. Ein bekanntes Beispiel ist die „wissenschaftliche“ Studie, wonach Impfen bei Kindern Autismus verursacht. Diese – nachweislich falsche, widerlegte und widerrufene – Studie wird weiterhin von Impfgegnern zitiert und in Stellung gebracht. Aus der Tatsache, dass sie wissenschaftlich widerlegt wurde, wird dann die nächste Verschwörungstheorie gezimmert, nach dem Motto: Da sieht man, wie die Machtverhältnisse die Forschung korrumpieren! Und schon folgt die nächste Geschichte: Die von der guten, aber angeblich unterdrückten wissenschaftlichen Minderheitenmeinung. Gerade rund ums Impfen gedeihen die abstrusesten Geschichten und Märchen; aber wer glaubt, das ist ja alles Quatsch und hat keine Bedeutung, sollte sich in Erinnerung rufen, wie wirkmächtig diese Lügen einer rationalen Corona-Politik im Wege standen und stehen.
Geschichten von Verneinung, Beschwichtigung und Herabwürdigung entstehen gerade da, wo es das Bedürfnis nach Abwehr und Rechtfertigung gibt. Ein wichtiges Beispiel ist der Klimaschutz. Angesichts der globalen Bedrohung und der enormen Anpassungsleistungen und -kosten, die ein glaubwürdiger Klimaschutz mit sich bringt, ist nicht verwunderlich, wieso sich viele dagegenstemmen, oftmals mithilfe von Klimalügengeschichten: Schuld an der Erwärmung ist nicht der Mensch (also auch ich nicht), sondern die Sonnenaktivität. Gemessen am gesamten Kohlendioxid der Erde, ist der vom Menschen verursachte Ausstoß gering und kann daher das Klima gar nicht beeinflussen. Es gab immer schon Klimaschwankungen wie Eiszeiten und Warmzeiten, auch ohne menschliches Zutun. Klimawandel ist also ein natürliches Phänomen.
"Geschichten von Verneinung, Beschwichtigung und Herabwürdigung entstehen gerade da, wo es das Bedürfnis nach Abwehr und Rechtfertigung gibt. Angesichts der globalen Bedrohung und der enormen Anpassungsleistungen und -kosten, die ein glaubwürdiger Klimaschutz mit sich bringt, ist nicht verwunderlich, wieso sich viele dagegenstemmen, oftmals mithilfe von Klimalügengeschichten"
Sie denken vielleicht, dass heutzutage kaum noch Menschen an der Existenz des menschengemachten Klimawandels zweifeln und die eben genannten Geschichten daher kaum verfangen. Eine Befragung der Meinungsforscher von infratest dimap zeigt allerdings, dass elf Prozent der Deutschen nicht an einen menschengemachten Klimawandel glauben – eine signifikante und oft besonders laute Minderheit. Hinzu kommen zwei Prozent, die glauben, dass sich das Klima überhaupt nicht verändert. In den USA zweifeln sogar 15 Prozent am Klimawandel, und insgesamt 30 Prozent vermuten, dass falls man doch eine Klimaveränderung feststellen könne, diese zumindest nicht menschlichen Ursprungs sei. Global vergleichbare Befragungen zeigen, dass die Zweifler in den USA besonders viel Zuspruch finden. Deutschland liegt hier im (besseren) Mittelfeld.
Neben eher primitiven Leugnungsgeschichten kursieren auch „anspruchsvollere“ Geschichten, die sich im Sinne der sogenannten Klimaskeptiker“ als produktiv erweisen können. So etwa die Geschichte von der technologischen Innovation, die es richten soll. Niemand kann etwas gegen Innovationen haben, die den Klimawandel eindämmen. Aber der Hinweis auf künftige technische Lösungen kann eben sehr schnell missverstanden werden als Begründung dafür, heute die Hände in den Schoß zu legen. Tatsache ist auch, dass bereits heute technische Möglichkeiten bestehen, den Ausstoß von CO₂ dramatisch zu reduzieren. Im Automobilbau etwa bräuchte man nur auf kleinere, leichte und weniger stark motorisierte Autos zu setzen, um über Nacht den Benzinverbrauch erheblich zu senken, ohne nennenswerte Einschränkung der Mobilität. Das ist kein technisches, sondern ein ökonomisches Problem. Aufschiebende Wirkung haben auch Geschichten mit dem Verweis, eine internationale Lösung sei zwingend nötig. Die Geschichte ist wirkmächtig, da sie im Kern richtig ist, aber zugleich eben auch zum Abwarten verleitet: so lange, bis sich ausreichend viele Länder verpflichtet haben.
Lösungen für klimafreundlichen Verkehr sind längst vorhanden – dennoch ist die Geschichte sehr beliebt, dass man noch auf technologische Innovationen warten sollte, um das Klima zu schützen. Für den Verhaltensökom Armin Falk ist diese eine Ausflucht, um sich vor dem moralisch Richtigen zu drücken; Foto: Carel Mohn
Häufig zu hören sind Geschichten der individuellen Unzulänglichkeit, die moralisch richtiges Verhalten als „sinnlos“ erscheinen lassen. Es ist ohnehin schon zu spät. Oder: Ich kann alleine sowieso nichts ausrichten. Abgesehen davon, dass man mit demselben Argument auch nicht zur Bundestagswahl gehen sollte, was wir aber doch richtig finden, ist das Argument bezogen auf Klimawandel nicht ganz richtig. Unter der Annahme, dass die derzeitigen nationalen Emissionsziele umgesetzt werden, kann berechnet werden, wie viel Schaden eine zusätzlich ausgestoßene Tonne CO₂-Emissionen hätte. Der zusätzliche Ausstoß würde acht Quadratmeter Vegetation gefährden. Eine Tonne CO₂-Emissionen kommt schneller zusammen, als man denkt, hierzu reicht schon eine Flugreise von Frankfurt nach Lissabon. Das Verhalten Einzelner hat zudem einen wichtigen Effekt, weil wir Multiplikatoren sind und durch unser Vorbild auch das Verhalten von Freunden, Nachbarn, Kollegen und Bekannten verändern. Jeder, der seine Ernährung auf weniger Fleisch oder gar vegan umgestellt hat, weiß das. Man sollte den Beitrag jedes Einzelnen nicht kleinreden. Jede Tonne zählt!
Gerne herangezogen wird auch die Tatsache, dass der Klimawandel wissenschaftlich nicht bewiesen sei. Folglich brauche ich mein Verhalten nicht zu ändern. Die Aussage ist insofern richtig, als empirische Wissenschaft stets nur Wahrscheinlichkeitsaussagen liefert, weil sie nur Wahrscheinlichkeiten liefern kann. Aber die Handlungsfolge ist absurd, denn die Wissenschaft ist sich in diesem Falle nahezu einig: Über 97 Prozent der Klimaforscher sind laut Studien überzeugt, dass für den Klimawandel maßgeblich der Mensch verantwortlich ist. Der wissenschaftliche Konsens wird gestützt von Wissenschaftsakademien aus 80 Ländern und zahlreichen Universitäten sowie wissenschaftlichen Organisationen, die finanziell unabhängig arbeiten. So viel Einigkeit ist selten, und wir begründen unser Verhalten regelmäßig auf weitaus unwahrscheinlichere Annahmen. Angenommen, Sie wüssten, dass sich der Wert einer Aktie mit 97 Prozent Wahrscheinlichkeit verzehnfacht und mit 3 Prozent geringfügig an Wert verliert. Da würde man wohl schon mal investieren; und nicht behaupten, es seien ja nur 97 Prozent. Als Entschuldigung funktioniert »der Mangel an Gewissheit« trotzdem: ist ja nicht bewiesen! Was wissenschaftlicher Konsens ist, spielt keine Rolle. Es zählt allein, was ich glauben möchte. Deshalb arbeiten Populisten stets an der Dekonstruktion von Fakten: Wenn alles unklar und unbewiesen ist, kann ich erreichen, dass die Leute am Ende alles glauben. Es ist bemerkenswert, dass dieselben Menschen, die sich lautstark auf einzelne pseudowissenschaftliche oder widerlegte Studien berufen, gleichzeitig den breiten wissenschaftlichen Konsens, also Hunderte nicht-widerlegte Studien, leugnen. Sie verwenden Wissenschaft als Kampfbegriff, ohne das Bemühen um Verstehen und Aufklärung.
"Bemerkenswert, wie manche Politiker immer dann ihr soziales Gewissen entdecken, wenn es gegen den Klimaschutz geht. Es hindert sie ja niemand daran, Sozialpolitik zu betreiben und die Ungleichheit zu bekämpfen. Aber was hat das mit Klimawandel zu tun"
Beliebt ist auch die Geschichte der besonders harten Umstände, die es unzumutbar erscheinen lassen, sich richtig zu verhalten. Pendler werden hier gerne ins Feld geführt. Oder sozial Schwache. Bemerkenswert, wie manche Politiker immer dann ihr soziales Gewissen entdecken, wenn es gegen den Klimaschutz geht. Es hindert sie ja niemand daran, Sozialpolitik zu betreiben und die Ungleichheit zu bekämpfen. Aber was hat das mit Klimawandel zu tun? Dem Klima ist es gleichgültig, aus welchem Auspuff CO₂ emittiert wird, ob der Fahrer reich oder arm ist. Interessanterweise waren bei der größten Umverteilungsaktion von unten nach oben in der neueren Geschichte, nämlich der Finanzkrise 2008, nahezu unbegrenzte Finanzmittel vorhanden. Die soziale Frage spielte bei der „Bankenrettung“ jedenfalls kaum eine Rolle. Ja, man muss Sozialpolitik machen. Aber die Vermischung mit Klimapolitik gefährdet die Erreichung der Klimaziele. Eine klimagerechte CO₂-Bepreisung darf nicht an sozialpolitischen Einwänden scheitern oder am Status quo.
Man muss das langfristig denken und dynamische Anpassungen in den Blick nehmen: Ohne eine realistische Preissetzung, die die tatsächlichen Kosten klimaschädlicher Gase reflektiert, wird es nicht zu den Innovationen und Verhaltensänderungen kommen, die wir dringend benötigen. Berechnungen zeigen zudem, dass eine aufkommensneutrale CO₂-Besteuerung, bei der das Geld in der einen oder anderen Form an die Bürger zurückfließt, aufgrund des einkommensabhängigen Emissionsverhaltens die Ungleichheit eher verringert. Und wer mit Ungleichheit argumentiert, sollte nicht verschweigen, dass es ja gerade die ärmeren Länder sind, die besonders hart vom Klimawandel getroffen werden.
Besonders perfide sind Geschichten der Herabwürdigung. Die also die moralische Integrität des Gegenübers unterminieren sollen. Wenn etwa Andersdenkende als vermeintliche „Gutmenschen“, „abgehobene Eliten“, „Klima-Nazis“ oder „Ökofaschisten“ bezeichnet werden, die angeblich Panik verbreiten würden und gegen die man sich wehren müsse. Durch Diffamierung sollen klimafreundliche Ideen und Personen delegitimiert und verunglimpft werden. Der Widerstand gegen die Panikmache wird so zum Akt der Rettung des liberalen Abendlandes erklärt. Ich frage mich, was es über eine Gesellschaft aussagt, wenn ein Gutmensch zur Chiffre des Bösen gemacht wird. Was genau ist falsch daran, sich um das Gute zu bemühen?
Wir danken dem Siedler-Verlag für die freundliche Genehmigung des Nachdrucks