Darrick Evensen ist Umweltpsychologe und lehrt Umweltpolitik an der Fakultät für Sozial- und Politikwissenschaften der Universität Edinburgh. Dieser Beitrag ist die bearbeitete und aktualisierte Fassung eines Artikels, der zuerst im Online-Magazin Euractiv erschien.
Die Schülerinnen und Schüler, die freitags für Klimaschutz streiken, haben die richtige Leidenschaft und das richtige Bewusstsein für die Dringlichkeit des Themas. Sie haben die Breite der Gesellschaft stärker mobilisiert als es irgendwem vor ihnen gelang - und all das in nur einem Jahr, seit die Klimastreiks in Stockholm mit einer einzigen Stimme und einem handgeschriebenen Plakat ihren Anfang nahmen. Diese Kinder und Jugendlichen sind Helden. Aber ihre Botschaft ist nicht ausgegoren, und ihr fehlen notwendige Nuancen.
In den vergangenen Monaten haben sich Millionen von Schülerinnen und Schülern auf der ganzen Welt mobilisiert, um von unseren politischen Führungspersönlichkeiten raschere und wirkungsvollere Maßnahmen gegen den Klimawandel zu fordern. Die nächste Großveranstaltung ist mit einem weltweiten Streiktag für den 20. September geplant. Auch wenn sie selbst ihre eigene Rolle bescheiden sieht, ist die schwedische Schülerin Greta Thunberg eine Ikone und wichtigste Stimme der Bewegung geworden. Unzählige Politiker, Aktivisten und Vertreter der Öffentlichkeit rühmen Thunberg für ihre Geradlinigkeit und Beharrlichkeit. Dennoch hat sie auch Kritiker – Klimaleugner, Skeptiker, Menschen mit ganz eigener Agenda –, die sie auf persönlicher Ebene mit gehässigen Angriffen überziehen.
Das simple Motto der Bewegung: "Vereint Euch hinter der Wissenschaft!"
Thunberg hat vor zahlreichen hochrangigen Organisationen gesprochen und Politikerinnen und Politiker getroffen – auf der COP24 in Polen, beim Weltwirtschaftsforum in Davos, vor dem Europäischen Parlament, mit Papst Franziskus. In ihren öffentlichen Äußerungen, die sich als Fundament und Anleitung für die Klimastreik-Bewegung lesen lassen, sticht eine immer wiederkehrende Aussage als Refrain heraus: "Wenn es um den Klimawandel geht – hört auf die Wissenschaft!"
Die Jugendlichen seien im Klimastreik, "weil wir unsere Hausaufgaben gemacht" und auf die Wissenschaft gehört haben, sagte die 16-jährige Umweltschutzaktivistin im Februar in Brüssel zu europäischen Politikerinnen und Politikern. "Sammelt Euch einfach hinter der Wissenschaft, das ist unsere Forderung." Im März schrieb sie auf ihrer Facebook-Seite: "Wir geben nur die Worte der Wissenschaft weiter. Unsere einzige Forderung ist, dass ihr endlich darauf hört. Und dann etwas tut." Und als sie kürzlich unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit zum UN-Klimagipfel in New York segelte, da trugen sowohl ihre Jacke als auch das Segel die Aufschrift "Unite behind the science" - "Vereint Euch hinter der Wissenschaft".
"Vereint Euch hinter der Wissenschaft" ist eine der Kernforderungen der Fridays-for-Future-Bewegung - hier Greta Thunberg am Tag 7 ihrer ihrer Segelreise nach New York; Quelle: twitter.com/gretathunberg
Auch wenn ich allergrößten Respekt für Thunberg und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter in dieser Bewegung habe, ist diese Botschaft aus verschiedenen Gründen problematisch.
Vor allem sollte man sich klarmachen: Die Wissenschaft beschreibt, was ist; sie kann nicht unmittelbar angeben, was sein sollte. Wissenschaft kann höchstens ein Ausgangspunkt für normative Entscheidungsprozesse und politisches Handeln sein. Die Sprache der jugendlichen Aktivistinnen und Aktivisten hingegen behandelt die Wissenschaft wie einen unanfechtbaren Schiedsrichter über die tatsächliche Politik. Wer aber die Wissenschaft auf ein derartiges Podest hebt, verkennt die Rolle objektiven Wissens für ethisches politisches Handeln. Mit ihrem wichtigsten Slogan unterstellen die Schülerinnen und Schüler fälschlicherweise, dass die Wissenschaft selbst uns sagen kann, wie Menschen handeln sollten.
Oft dient "die Wissenschaft" dazu, normative Aussagen zu verschleiern
Der Begriff "verwissenschaftlicht" oder "wissenschaftlisiert" (engl.: "scientized") beschreibt Situationen, in denen die Wissenschaft benutzt wird, um normative Aussagen zu verschleiern und eine notwendige logische Begründung für bestimmte Positionen zu umgehen. (Fairerweise sei hier angemerkt, dass dies keineswegs nur junge Aktivisten tun; auch in hochkarätigen Veröffentlichungen begehen anerkannte Wissenschaftler regelmäßig diesen Fehler).
Natürlich stimmt es: Die Wissenschaft sagt schon seit einiger Zeit klar, dass der Klimawandel teils schreckliche Dinge nach sich ziehen wird, und dass dessen Auswirkungen enorme Risiken für Infrastruktur, Existenzgrundlagen, Volkswirtschaften und Menschenleben auf der ganzen Welt bedeuten (und die Befunde sind mit der Zeit immer ernster geworden). Doch selbst wenn das Bewusstsein wächst, löst dies noch längst nicht die Frage des Handelns. Entgegen Thunbergs Forderung nach mehr Bildung handelt es sich hier nicht um ein Problem des Wissens, sondern der Werte.
Klar, Kohleverbrennung ist CO2-intensiv. Aber was folgt daraus?
Lassen Sie mich dazu ein Beispiel anführen: Die Wissenschaft besagt, dass die Kohleverbrennung zu den schlimmsten energiebezogenen Emissionsquellen aus fossilen Brennstoffen gehört. Aber was folgt aus diesem Fakt? Dass kohleverbrennende Länder als Erste ihr Haus in Ordnung bringen müssen? Oder bedeutet es, dass die Länder, die historisch am meisten Kohle verbrannt haben, auch am meisten gegen den Klimawandel tun müssen? Oder heißt es, dass jene Länder, die Kohle fördern und an Entwicklungsländer liefern, damit sie dort verbrannt werden - dass diese Länder für den Löwenanteil der Klimaschutzmaßnahmen verantwortlich sind? Die Wissenschaft kann schlicht und einfach nicht die Frage beantworten, wer handeln sollte und wann.
Und so können also hochentwickelte Staaten auf das beschleunigte Emissionswachstum in den Entwicklungsländern hinweisen – was impliziert, Letztere müssten wesentliche Klimaschutzmaßnahmen vornehmen. Die Entwicklungsländer wiederum können auf die historischen Emissionen der Industrieländer zeigen – ein beispielloses Vermächtnis an Umweltverschmutzung. Und wir alle können hochtrabend über Gesamtkohlestoffemissionen, Pro-Kopf-Emissionen, Anstieg der Emissionsraten usw. diskutieren - jeder Bilanzierungsansatz hat Auswirkungen auf die Frage, wer am meisten Handlungsverantwortung trägt.
Auf die Wissenschaft zu hören, mag die Bestätigung bringen, dass etwas zur Abmilderung des Klimawandels getan werden muss. Aber es ist alles andere als klar, dass es Politiker tatsächlich zu der Einsicht bringt, dass sie selbst mehr tun müssen (außer vermutliche jene, die ohnehin schon dieser Ansicht waren). Auf die Wissenschaft zu hören, kann jemandem vielleicht auch einfach nur darin bestätigen, dass andere unverantwortlich handeln und nicht genug tun beim Kampf gegen klimaschädliche Emissionen.
Wissenschaft ist nur ein Ausgangspunkt für politische Entscheidungen
Jenseits der Wissenschaft braucht es ethische und moralische Entscheidungen, um der Politik den Weg zum Handeln zu weisen. Wissenschaft trägt (hoffentlich) zu solchen Entscheidungen bei; schließlich ist es schwierig, sich vorzustellen, wie etwas sein sollte, ohne zu verstehen, was momentan ist. Dennoch ist die Wissenschaft nur der Ausgangspunkt. Selbst wenn sich alle über die wissenschaftlichen Fakten komplett einig wären, würde dies nichts daran ändern, dass es Werte, historische Erfahrungen und moralische Einstellungen gibt, die Klimahandeln verhindern (siehe hierzu auch mein Artikel in der Mai-Ausgabe von Nature Climate Change).
Demonstration während des Fridays-for-Future-Sommerkongress' 2019 in Dortmund; Foto: Carel Mohn
Natürlich kann man sich die wissenschaftlichen Fakten anschauen (und all die Gewissheitsgrade und Konfidenzintervalle) - und dann dafür plädieren, nach dem Vorsorgeprinzip zu handeln. Doch dies ist ein normatives oder politisches Argument, kein wissenschaftliches! Mal auf den Punkt gebracht: Wenn die Wissenschaft einem sagt, dass das eigene Verhalten verheerende Folgen haben wird, dann ist es eine Frage der moralischen Einschätzung (nicht der wissenschaftlichen), ob jemand a) sein Verhalten ändert, b) zu dem Schluss kommt, jemand anders müsse sein Verhalten ändern, oder c) die Konsequenzen ignoriert und einfach weitermacht wie bisher.
Gelegentlich argumentieren die streikenden Schülerinnen und Schüler auf moralischer oder ethischer Ebene, zum Beispiel wenn sie auf die Generationengerechtigkeit verweisen. Oder auf die Ungerechtigkeit eines Wirtschaftssystems, das die Reichen immer reicher macht, während immense externe Kosten auf die Schwächsten abgewälzt werden. Und in der Tat sind dies sind wichtige Punkte, die ausbuchstabiert werden könnten (und sollten), schließlich verfügen wir aus jahrzehntelanger Forschung über Ergebnisse zum Thema "Klimagerechtigkeit". Und auch wissenschaftliche Logik kann dabei helfen, die Validität der Streikforderungen zu untermauern.
Wissenschaft beschreibt, was ist - aber sie schreibt nicht vor, was sein soll
Auf die Wissenschaft zu hören ist ein erster Schritt, und – ehrlich gesagt – einer, den viele Politiker bereits getan haben (einmal abgesehen von jenen Populisten, die keinen Funken Interesse an Fakten, Vernunft und logischen Argumenten haben). Und sicherlich hat die Forderung, auf die Wissenschaft zu hören, Menschen elektrisiert - aber ich würde wetten, dass dies Leute sind, die sich auch vorher schon für die wissenschaftlichen Erkenntnisse interessiert haben. Oder sie sind zum Beispiel Eltern jener streikenden Kinder und empfinden diesen gegenüber eine ganz besondere emotionale Verpflichtung.
Natürlich, gute ethische und moralische Argument sind kein Patentrezept. Wir alle wissen, dass sich einige Führungsfiguren dieser Welt herzlich wenig um ethisches Verhalten irgendwelcher Art scheren. Aber derartige Argumente könnten zumindest die Debatte in eine neue Richtung lenken - und sie würden andere Antworten herausfordern von der politischen Führung und der Gesellschaft. So gibt laut der Enzyklika "Laudato Si" (2015) von Papst Franziskus die christliche Theologie (und vielleicht die Moralphilosophie generell) eine unmissverständliche Anleitung dafür, wie wir die Armen, Unterdrückten und Entrechteten behandeln sollen. Und auch wenn es für Klimastreiks nicht angemessen sein mag, sich eine theologische Botschaft auf die Fahnen zu schreiben - so könnte doch eine Weiterentwicklung und ein klares Benennen solcher moralischen Argumente die Forderungen der Streikenden stärker unterfüttern und vielleicht neue Bevölkerungsgruppen erreichen.
Die Schülerinnen und Schüler von #FridaysForFuture haben die Herzen und Köpfe von Millionen Menschen auf der ganzen Erde erobert, und sie genießen jetzt die Aufmerksamkeit der Wichtigen und Mächtigen. Mein dringlicher Aufruf lautet, dass sie uns weniger auffordern, auf die Wissenschaft zu hören - sondern uns helfen, die normativen Gründe dafür zu verstehen, wie und warum wir handeln müssen. Das könnte uns den Weg ebnen: von der Wissenschaft, die uns sagt, was ist, hin zur Politik, die uns sagt, was sein sollte.
In einem Gastbeitrag mit dem Titel
"Wir müssen versuchen, emotional und intelligent zu handeln"
hat die Psychotherapeutin Simone Regina Adams auf diesen Artikel geantwortet