Schweine und Rinder müssen nicht mehr geschlachtet, Fleisch kann synthetisch hergestellt werden - demnächst kommt es vielleicht aus dem 3-D-Drucker in der Küche. Klingt toll, oder? Die Klimaprobleme des Fliegens lassen sich durch Kerosin aus Biomasse lösen. Und, hej, es gibt schon Sprit aus CO2-fressenden Algen!
Bei vielen Wortmeldungen in der Debatte um den Klimawandel könnte man meinen, Klimaschutz sei vor allem ein Problem für Ingenieure und Techniker. Oft heißt es: Für jedes Problem gebe es eine Lösung - man müsse sie nur entwickeln, hochskalieren, fertig. Und weil Technik- und Wissenschaftsjournalisten gern über neue (vermeintliche) Lösungen berichten und das Publikum positive Geschichten mag, kann ein Kreislauf des Überoptimismus in Gang kommen.
"Ich bin zutiefst davon überzeugt …"
Für den Glauben, alle Probleme seien technisch lösbar, gibt es im Englischen ein griffiges Wort: "solutionism". Ein Vertrauen in die Allmacht der Technik zeigt sich bei vielen Themen, besonders stark vielleicht bei sehr großen und komplizierten Herausforderungen wie der potenziell zivilisationsbedrohenden Klimakrise. Als Personifizierung des Solutionismus' könnte man die Disney-Zeichentrickfigur Daniel Düsentrieb sehen. Im politischen Raum wurde die Haltung jüngst sehr prominent zum Beispiel von Christian Lindner vertreten: "Ich bin zutiefst davon überzeugt", sagte der FDP-Bundesvorsitzende im Deutschlandfunk, "dass wenn wir unseren Erfindergeist wecken, wir in der Lage sind, klimaneutral zu leben und zu wirtschaften ohne diese harten Freiheitseinschränkungen."
In der Tat, denkbar ist ja jede Lösung. Geprägt wurde der Solutionismus-Begriff durch den weißrussisch-amerikanischen Autoren Jewgeni Morosow in seinem Buch "To Save Everything, Click Here". Er nahm darin das Silicon-Valley-Denken aufs Korn, wonach man für jedes politische, wirtschaftliche oder ökologische Problem eine digitale Lösung liefern könne. Doch werden dabei regelmäßig die sozialen, wirtschaftlichen oder ökologischen Probleme ignoriert, die mit theoretisch möglichen Technik-Lösungen einhergehen. Noch gibt es keine deutsche Übersetzung des Begriffs, "Technikgläubigkeit" oder "Technologiegläubigkeit" kommt ihm wohl noch am nächsten - aber auch die Eindeutschung "Solutionismus" taucht seit einiger Zeit gelegentlich auf.
Kann die Mobilität der Zukunft mit Wasserstoff abheben? Folgt man der Intensität, mit der derzeit "Wasserstoff als das Gold des 21. Jahrhunderts" propagiert wird, dann steht die Lösung für (fast) alle Klima-Probleme kurz vor dem Durchbruch; Foto (Porscheplatz vor dem Porsche-Museum in Stuttgart-Zuffenhausen); Carel Mohn
Das Center for Research on Environmental Decisions (CRED) an der Columbia University in New York warnt in seinem Leitfaden für effektive Klimakommunikation ausdrücklich vor einer "Solutionismus-Falle": Zwar könne man durchaus Menschen für das Klima-Thema begeistern, indem Lösungen aufgezeigt werden. Doch Kommunikatoren riskierten Rückschläge, wenn sie Lösungen befürworten, die weder dem Ausmaß, noch dem Zeitrahmen des Problems entsprechen. So könne beispielsweise ein Hinweis auf die (weit von der Einsatzreife entfernte) Kernfusion Menschen demotivieren, selbst (etwa durch Energiesparen) auf der individuellen Ebene tätig zu werden oder sich politisch klimaschonende Energieoptionen einzusetzen, die deutlich realistischer sind.
Auch der unter Politikern oder Lobbyisten beliebte Begriff "technologieneutral" ist übrigens kompatibel mit einem Solutionismus-Denken: Er kann als taktisches Abwehrargument gegen politische Regulierung eingesetzt werden – also gegen Einschränkungen einer bestimmten klimaschädlichen Technik oder die gezielte Förderung neuer, klimaschonenderer Technologien. Dahinter steht die – oft unausgesprochene – Vorstellung, dass sich die angeblich beste Technik schon irgendwie von allein durchsetzen werde – und es daher keiner staatlichen Eingriffe bedürfe. Er wurde zum Beispiel in der Debatte um ein mögliches Zulassungsverbot für Neuwagen mit Verbrennungsmotor ins Feld geführt: Da betonte der Verband der Deutschen Automobilindustrie (VDA), die ganze Bandbreite der Antriebstechnologien sei wichtig – und verwies auf regenerativ hergestellte Kraftstoffe wie E-Fuels. Dass diese aus vielerlei Gründen auf absehbare Zeit gar nicht in notwendiger Menge Verfügung stehen, um die Verkehrsemissionen substanziell zu senken, erwähnte der VDA nicht.
"Paradigmatische Kurzsichtigkeit" sogar in der Nachhaltigkeitsforschung
Aber auch unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ist Solutionismus keine Seltenheit. Eine Literaturanalyse von Adi Kuntsman und Imogen Rattle von der britischen Manchester Metropolitan University ergab, dass selbst in der traditionell technisch-skeptischen Szene der Nachhaltigkeitsforscher der Glaube an die digitalen Technologien ("digital solutionism") verbreitet sei. Aus Datenbanken der Fachliteratur filterten die Forscher 78 Beiträge aus den Jahren 2008 bis 2017, die sich mit der Rolle digitaler Techniken in Bezug auf Nachhaltigkeitsfragen befassten.
17 Artikel befassten sich mit der Frage, wie digitale Tools für Ressourcen-Management, digitale Modellierungen oder Überwachungsprozesse im Energie – und Wasserbereich sowie Abfall- und Recyclingbereich möglicherweise noch besser eingesetzt werden können. Zwar adressieren einige Beiträge den Energieverbrauch der digitalen Systeme, sehen diese aber gleichzeitig als Teil der Lösung.
32 Beiträge bezogen sich auf die Rolle digitaler Geräte und Inhalte in Bezug auf Nachhaltigkeitsfragen in der Bildung, wobei nur eine einziger Beitrag en passant das Problem von Elektronikschrott erwähnte.
Nur 4 von 21 Aufsätzen, die sich mit Fragen des nachhaltigen Konsums befassten, diskutierten den Einfluss der digitalen Medien kritisch: So wurde erwähnt, dass eine höhere Konsum-Nachfrage auch höhere Umweltkosten durch Transport verursachen könnte oder dass Angebote für "ethischen Konsum" sogar impulsives Online-Shopping noch verstärken könnte.
19 Artikel befassten sich ausschließlich mit der Frage des elektronischen Abfalls und konzentrierten sich damit auf den materiellen Aspekt des Digitalen. Dabei konzentrierte sich ein Teil der Beiträge auf die Frage der Regulierung von Recycling, ein anderer auf Fragen des Produkt-Designs und Möglichkeiten der Wiederaufarbeitung. Die meisten Beiträge gingen davon aus, dass mit verbesserten Marktmechanismen mehr Nachhaltigkeit zu erreichen sei.
Kein einziger Artikel aber sprach sich im Sinne von Suffizienz, also im Sinne eines möglichst geringen Rohstoff- und Energieverbrauchs, für weniger digitale Lösungen aus. Falls auf Gefahren oder Bedenken bezüglich der Umweltschädlichkeit digitaler Kommunikation hingewiesen wurde, unterbreiteten die Wissenschaftler lediglich Vorschläge, wie man es mit präziseren Tools, weiterer Forschung, kritischem Denken oder besserer Bildung besser machen könne.
Soziale Innovation statt Technigläubigkeit? Wer ein ganzes Dorf mit der Abwärme einer Biogasanlage beheizen will, braucht natürlich die entsprechende Technik und Gülle - vor allem aber eine Bevölkerung vor Ort, die mitmacht. Im brandenburgischen Wahlsdorf bei Dahme/Mark ist diese Verbindung geglückt; Foto: Carel Mohn
Kuntsman und Rattle kommen zu dem Schluss, die analysierte Fachliteratur mit ihrer "schwindelerregenden" Bevorzugung digitaler Lösungsansätze sei von einer "paradigmatischen Kurzsichtigkeit" geprägt. Diese basiere auf dem allgemeinen Glauben an die Kraft der Technologie und des technologischen Fortschritts, in dem jede neue Erfindung das Versprechen trage, die Welt besser zu machen. Dass Umweltprobleme zum Beispiel auch durch soziale Veränderungen angegangen werden könnten, werde ausgeblendet, der Mythos einer "nachhaltigen Informationsgesellschaft" aufrechterhalten und gleichzeitig der Mythos des Digitalen als Retter bedient.
Rebound-Effekt: Wenn Technik auf Menschen trifft
Nun spielt Technik im Nachhaltigkeitsdiskurs eine zentrale Rolle, seit die ehemalige norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland 1987 ihre Vorstellungen von einer nachhaltigen Entwicklung in einem Bericht für die UN festhielt. Den IT-Technologien beispielsweise wird in dem Report mit dem Titel "Unsere gemeinsame Zukunft" bescheinigt, die Produktivität, Energie- und Ressourceneffizienz sowie die Organisationsstrukturen von Industrien verbessern zu können. Der Bericht zeigte sich optimistisch, dass man mit technologischem Fortschritt Umweltschäden mildern könne, die durch Wirtschaftswachstum verursacht werden - mit entsprechender Unterstützung durch die Politik könne er also der Umwelt nützen. Kritiker meinen, dieser einflussreiche Bericht habe die Nachhaltigkeitsidee mit Technikgläubigkeit verheiratet. Im Grunde handelte es sich aber wohl um einen politischen Kompromiss: In reicheren Ländern kann durch die Formel die unbequeme Grundsatzdebatte umgangen werden, wie (wenig) nachhaltig die gesamte Wirtschafts- und Lebensweise ist und ob Einschränkungen des Wohlstands (oder dem, was viele Leute darunter verstehen) notwendig sind.
Der Brundtland-Bericht war die wesentliche Basis der großen Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1993. Der Nachhaltigkeitsforscher Franz Josef Rademacher wies darauf hin, dass es der Welthandelsorganisation im Nachgang gelang, Liberalisierung, Deregulierung und freie Märkte als die Mittel für die Verwirklichung der Ziele von Rio durchzusetzen. Dabei gibt es viele Argumente für die Position, ein ungezügeltes Wirtschaften sei nicht mit nachhaltiger Entwicklung vereinbar. Beispielsweise können sich - wegen fehlender Umweltgesetze - reiche Länder sehr einfach ihres Mülls durch Export in ärmere Staaten entledigen.
Dass Solutionismus zu kurz greift, zeigen auch die inzwischen zahlreichen Erkenntnisse zu sogenannten Rebound-Effekten. Darunter versteht man das Phänomen, dass von (energie)sparenden Geräten letztlich eine größere Zahl zum Einsatz kommt - und in der Gesamtbetrachtung die höhere Effizienz eines einzelnen Gerätes verblasst. Nur zwei bekannte Beispiele: Zwar wurden Verbrennungsmotoren in den vergangenen Jahren viel effizienter - doch das führte weniger zu einem Rückgang des Spritverbrauchs als dazu, dass Autos größer und schwerer wurden und die sogenannten Stadtgeländewagen boomen. LED-Glühbirnen verbrauchen viel weniger Energie - doch viele Verbraucher lassen sie heute einfach länger brennen.
Auch IPCC und Bundesregierung setzen auf ungetestete Technologien
Dass ein dauerhaftes und deutliches Senken von Energieverbrauch und Treibhausgas-Ausstoß vielleicht weniger Verbrauch und weniger Technik sinnvoll sein könnte - die Diskussion und das Nachdenken darüber wird jedenfalls gern vermieden. Bei der technikgläubigen Grundhaltung in Medien, Politik und Gesellschaft wird auch meist ausgeblendet, wie störanfällig viele Technologien sind – und dass höhere Komplexität das Problem weiter verstärkt. Dystopische Denkansätze könnten hier korrigierend wirken und den Diskurs etwas realitätsnaher gestalten. Beispielsweise mutmaßt der Autor James Bridle in seinem Buch "New Dark Age: Technology and the End of the Future", dass künftige Technologien zu den ersten Opfern das Klimawandels gehören könnten - zumal die exakten Wirkungen des Klimawandels und mögliche Wirkungsketten schwer vorherbar sind. Störungen in der Stromversorgung zum Beispiel könnten durch zunehmende Wetterextreme deutlich häufiger werden.
Doch selbst Klimaforschung und -politik setzen inzwischen zu einem Gutteil auf Solutionismus: Die Internationale Energie-Agentur (IEA) oder auch der Weltklimarat IPCC kalkulieren in ihre Energie- oder Emissionsszenarien längst fest ein, dass mittels technischer Lösungen (die in Wahrheit noch weit von der großtechnischen Einsatzreife entfernt sind) künftig erhebliche Mengen an Treibhausgasen wieder aus der Atmosphäre gezogen werden. Die Bundesregierung macht es kaum anders: In ihren Planungen für die Klimaziele 2050 wird ebenfalls mit CCS-Techniken (Carbon Capture and Storage) gerechnet - dabei sind Machbarkeit und Sicherheit ebenso unsicher wie die gesellschaftliche Akzeptanz.
Christiane Schulzki-Haddouti