Neben den Fahrstühltüren in der Zentrale der Innungs-Krankenkasse IKK classic in Dresden kleben seit einigen Monaten hellblau-weiße Sticker: "Treppensteigen entlastet das Kalorien-Konto", steht darauf. Oder: "Treppensteigen stärkt die Muskulatur".
Die Sticker kleben nicht nur im Dresdner Hauptquartier, sondern bundesweit in allen Geschäftsstellen mit Aufzügen. Sie sind Teil der Kommunikationsstrategie zu einem Projekt, dem sich die IKK classic im April 2019 als erste Krankenkasse in Deutschland angeschlossen hat. Es heißt "Klimaretter - Lebensretter", wurde initiiert von der Stiftung Viamedica und wendet sich an Unternehmen und Einrichtungen des Gesundheitssektors. Teil des Projekts ist ein Wettbewerb, der die erfolgreichsten CO2-Emissionssparer auszeichnet – und die Krankenkasse stand im Juni 2020 auf Platz 1.
Mit auffälligen Aufklebern an den Fahrstuhltüren versucht die Krankenkasse IKK classic ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu zu bringen, etwas für ihre Gesundheit zu tun - und fürs Klima; Foto: Friederike Braun
In der Kinderarztpraxis von Dr. Barbara Hümmer-Ehret in Weinheim (Baden-Württemberg) gibt es weder Aufzüge noch Aufkleber. Aber an der Infowand im Wartezimmer hängt ein Schild. Es informiert alle Patient:innen darüber, dass sich die Praxis ebenfalls an “Klimaretter – Lebensretter“ beteiligt. So, wie bislang 87 Unternehmen und Einrichtungen, die sich seit Projektbeginn im September 2017 angemeldet haben – darunter städtische Krankenhäuser und Unikliniken wie in Solingen und Erlangen oder auch Altenpflege-Einrichtungen, Pharmafirmen und eben niedergelassene Ärztinnen und Ärzte.
Am Arbeitsplatz CO2 sparen: wie es euch gefällt und gern immer wieder
Bei der IKK classic haben sich inzwischen 604 der rund 8.000 Mitarbeiter:innen registriert, in der Praxis von Dr. Hümmer-Ehret sogar alle sechs Teammitglieder. Sie alle können auf der Website des Projekts ein persönliches Konto anlegen und aus 23 alltags- und arbeitsplatztauglichen Aktionen auswählen, die CO2-Emissionen einsparen sollen. Zur Auswahl stehen Optionen wie "Vegetarisch essen" (Fleisch verursacht hohe Treibhausgas-Emissionen), "Kaffeekonsum halbieren" (Anbau und Verarbeitung von Kaffeebohnen sind energieintensiv), "Leitungswasser trinken" (spart Flaschen) oder auch "Treppe nutzen statt Aufzug" (spart Strom). Unter jeder vorgeschlagenen Option steht, wie viel CO2 sich jeweils einsparen lässt: Zum Beispiel 12,7 Kilogramm pro Woche für "Vegetarisch essen" oder zweihundert Gramm pro Woche für "Treppe statt Aufzug".
Nach Anklicken einer Kachel lässt sich über einen Regler einstellen, ob die gewählte Aktion nur eine oder bis zu zwölf Wochen laufen soll. So würde es bereits 2,4 Kilogramm Kohlendioxid einsparen, würde man zwölf Wochen lang Treppen steigen statt den Fahrstuhl zu nutzen. Wer sich entschließt vegetarisch zu essen, füttert sein CO2-Sparkonto schneller: mit 152,9 Kilo nach zwölf Wochen. Gutgeschrieben werden die gesparten Emissionen erst, wenn die Nutzer:innen auf eine gemailte Nachfrage hin bestätigen, dass sie die gewählte Aufgabe tatsächlich erfüllt haben – es dürfen auch mehrere gleichzeitig sein oder eine persönlich besonders gut passende immer wieder.
Ha, besser als du!
Das Projekt vereint gleich mehrere Ansätze wirksamer Klimakommunikation: Den CO2-Effekt zu quantifizieren, macht Klimaschutz konkret erfahrbar. Zudem wird ein Eindruck davon vermittelt, welche Verhaltensänderungen viel fürs Klima bringen und welche weniger. Nicht zuletzt haben die meisten Optionen einen Mehrfachnutzen – für Klima und für die eigene Gesundheit.
Einen besonderen "Kick" gibt der sportive Charakter des Projekts: Wer mitmacht, kann sich mit einem Blick auf die CO2-Sparkonten von Mitgliedern des eigenen Teams oder auch jener anderer Teams und Unternehmen motivieren. Bei der IKK zum Beispiel treten die Azubis gegen die Personalabteilung an. Projektleiter Michael Förstermann berichtet, er beobachte mit leisem Neid, dass sein Chef CO2-Sparerfolge im Sitzen erzielt (im öffentlichen Nahverkehr statt im Auto), während Förstermann selbst Treppen steigt.
In einem personalisierten Online-Portal können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wettbewerbs den Effekt ihrer Verhaltensänderungen in Kilogramm nachlesen; Screenshot: Stiftung Viamedica
In der Weinheimer Kinderarztpraxis leidet die Mikrowelle in der Personalküche ein wenig unter dem Projekt – denn es gibt nun seltener bequeme Fertiggerichte aus der Plastikverpackung, dafür mehr Frischgekochtes. Dr. Hümmer-Ehret findet dies besonders spannend, weil die Wurzeln ihres Teams international sind - und für zwei Tage in der Woche haben zwei Mitarbeiterinnen vegetarisches Essen für alle vereinbart.
Was hat sich sonst noch geändert im Praxisalltag? Einseitig bedrucktes Papier, das keine sensiblen Daten trägt, komme jetzt in eine eigene Kiste. "Wir bedrucken jedes Fetzchen doppelseitig", sagt Hümmer-Ehret hörbar stolz. "Und unsere Auszubildende hat an einem Nachmittag alle Praxisdrucker auf doppelseitiges Drucken umgestellt."
Und sie bewegt sich doch. Emission und Selbstwirksamkeit
Emissionen gespart haben alle: In der IKK classic waren es mit Stand Ende Juni 2020 mehr als 103.000 Kilogramm CO2, macht für jede Teilnehmer:in 172 Kilo. In der Kinderarztpraxis ist die Gesamtsumme mit 2.584 Kilogramm natürlich kleiner –aber pro Kopf schlägt das kleine Team den großen Mitbewerber um Längen mit 431 Kilogramm. Was sich außerdem bewegt, ist die Wahrnehmung, dass selbst kleine Maßnahmen wie Treppesteigen oder bei Tageslicht die Lampen auszuschalten etwas bringen. Kleine Verhaltensänderungen erhalten plötzlich Gewicht. Weil das eigene Handeln eine bezifferte Wirkung bekommt, wird etwas vermittelt, das in der Sozialpsychologie als "Selbstwirksamkeit" bezeichnet wird (engl.: "self efficacy").
Und dieses Gefühl steigt insbesondere dann, wenn Modellpersonen – wie beispielsweise die eigene Chefin oder ein geschätzter Kollege – mit demselben Konzept Erfolg haben und wenn die soziale Gruppe das Handeln des/der Einzelnen positiv verstärkt (vgl. u.a. Jugert et al. 2016, van Valkengoed et al. 2019). Innerhalb der Teams oder auch ganzer Firmen und Einrichtungen kann dadurch ein weiterer Effekt eintreten: Veränderte Verhaltensweisenwerden normal. Sie gelten nicht länger als erklärungs- oder diskussionsbedürftig, sondern als erwünscht und positiv besetzt. Dies kann die Basis für neue Soziale Normen legen. Auf diese Weise verknüpft das Projekt individuelle Verhaltensänderungen (die wichtig sind, aber allein nicht ausreichend) mit größerem, eher strukturellen Wandel (ohne den eine Wende zu klimaschonendem Wirtschaften und Leben bekanntlich nicht funktionieren wird).
Licht aus, Spot an für die (größten) CO2-Sparer
Die eigene Selbstwirksamkeit bestärkt es auch, wenn Verhalten (öffentlich) honoriert wird. Die für das Projekt verantwortliche Stiftung Viamedica ehrt deshalb jedes Jahr jene Unternehmen, Gruppen und Einzelpersonen mit einem "Klimaretter-Award", denen die höchsten Einsparungen gelungen sind (2020 fand die Verleihung pandemiebedingt virtuell auf der Projekt-Homepage statt).
Unabhängig davon finden in den teilnehmenden Einrichtungen kleinere Ehrungen statt: So lud Kinderärztin Hümmer-Ehret ihre Mitarbeiter:innen 2019 zu einem selbstgekochten, gemeinsames Essen ein – vegan, versteht sich – sowie zu einem gemeinsam besuchten Vortrag mit kulinarischem Abschluss. Bei der IKK nutzt der Vorstand die Firmenzeitschrift, um sich hinter das Projekt zu stellen und für das Engagement zu danken, Mitarbeiter:innen erscheinen dort mit Foto und Statement zu ihrer persönlichen Motivation.
Wenn Verhaltensänderungen ein Klima-"Preisschild" bekommen, kann man schnell erkennen, welche Aktion viel bewirkt - und welche nicht so viel; Screenshot: Stiftung Viamedica
In einem Projekt-Forum im Firmenintranet entstehen neue Ideen, wie der Umstieg auf die gemeinnützige Internet-Suchmaschine Ecosia im gesamten Unternehmen oder die Einführung eines Job-Rads. Für die Krankenkasse, die 2010 aus der Fusion von vier Einzelkassen aus Hamburg, Sachsen, Thüringen und Baden-Württemberg/Hessen entstand, hat das Projekt noch eine besondere, integrative Wirkung, freut sich Koordinator Förstermann: Es sei ein Gemeinschaftsprojekt, das "jenseits aller landsmannschaftlichen Unterschiede Zustimmung findet".
Nach zögerlichem Start hat das Projekt Fahrt aufgenommen
Nach dem Einstieg der Innungskrankenkasse im April 2019 haben sich auch weitere Krankenkassen dem Projekt angeschlossen, darunter die DAK, pronova BKK, SBK Siemens und die Barmer. In der Kinderarztpraxis in Weinheim ist das Lebensretter-Schild an der Infowand eine Einladung zum Gespräch: Da kann es während der Jugenduntersuchung auch mal um #FridaysForFuture-Demonstrationen gehen ("Was macht ihr denn sonst noch so für den Klimaschutz?", fragt Dr. Hümmer-Ehret die jungen Patient:innen). Oder Vertreter:innen von Pharmafirmen nehmen überschüssiges Werbematerial wieder mit. Und ein Mitarbeiter berichtet, im Laden des Vaters habe sich das Sortiment verändert – dort sei jetzt weniger Verpackung angesagt.
Nachdem das gesamte Projekt eher zögernd startete, hat es in den vergangenen Monaten deutlich an Fahrt aufgenommen: Die Zahl der registrierten Teilnehmer:innen stieg zwischen Dezember 2019 und Juni 2020 von rund 3.200 auf knapp 4.200. Alle zusammen sparen in zwei bis drei Tagen rund 1.000 Kilogramm CO2 , berichtet Markus Loh, Projektleiter bei Viamedica.
Gründer der Stiftung ist Franz Daschner, langjähriger Professor für Krankenhaushygiene in Freiburg und Träger mehrerer Umweltpreise sowie des Bundesverdienstkeuzes. Seine Kinder engagierten sich in den 1980er und -90er Jahren im Umweltschutz, erzählt er, und wurden sein Motiv, das Thema auch in der Medizin zu etablieren. Er war einer der Ersten, die sich zum Beispiel dafür interessierten, wie viel höher Müllaufkommen, Wasser- und Energieverbrauch im Krankenhaus sind als im Privathaushalt und dafür, dass zu viele und zu scharfe Reinigungsmittel und zu sorglos eingesetzte Antibiotika die Umwelt schädigen.
Franz Daschner, langjähriger Professor für Krankenhaushygiene in Freiburg, hat 2002 mit dem Preisgeld einer Umweltauszeichnung die Stiftung Viamedica gegründet; Foto: Viamedica
Diese Themen haben Daschner in den vergangenen 30 Jahre seiner Karriere begleitet; aber auch die Erkenntnis, dass "man Menschen zur Veränderung hintragen muss", wie er es formuliert. Gerade im Gesundheitswesen, denn da stehe häufig die Selbstwahrnehmung als Lebensretter im Vordergrund – dass man auch noch Klimaretter sein solle, eher weniger.
2017 besucht Stiftungsmitarbeiter Markus Loh ein Vernetzungstreffen der Nationalen Klimaschutzinitiative des Bundesumweltministeriums. Dort stößt er auf das Online-Tool, das heute den Kern des Projekts "Klimaretter – Lebensretter" bildet. Die Deutsche Bahn nutzt es für eine eigene Klimaschutzkampagne. Es ist unkompliziert, braucht wenig Zeit im Alltag und funktioniert für Menschen, die in den unterschiedlichsten Positionen arbeiten – Loh lässt es für den Gesundheitssektor anpassen.
Nun nutzt es also die Krankenkasse mit bundesweit 180 Standorten (die nach Förstermanns Worten durchaus Nachholbedarf hinsichtlich des Klimaschutzes hat) ebenso wie die Kinderärztin. Die übrigens bereits vor 25 Jahren eine Photovoltaikanlage installierte und für die eine Regenwassersammelanlage selbstverständlich ist. Als Hümmer-Ehret das Projekt in einer medizinischen Fachzeitschrift entdeckt, ist klar: "Das finde ich cool, da machen wir mal mit." Vermutlich hatte das Team der positiven Energie der Chefin wenig entgegenzusetzen; dass letztlich alle mitziehen, zeigt das CO2-Sparkonto.
Und am Ende: zählt das Geld?
Voraussichtlich bis Dezember 2020 ist die Teilnahme bei "Klimaretter – Lebensretter" für die Firmen und Einrichtungen gratis; ab Januar 2021 soll ein kleiner Kostenzuschuss fällig werden, der sich nach der Betriebsgröße richtet. Doch selbst dann wird sich das Projekt finanziell lohnen. Zum einen, weil es natürlich Geld spart, wenn das Licht kürzer brennt oder Rechner seltener auf Stand-by laufen. Zum anderen reduzieren solche Maßnahmen die Energieintensität eines Betriebs. Und weil das Viamedica-Projekt dies anstößt, können kleine und mittlere Unternehmen (KMU) auf der Basis ihrer Teilnahme eine steuerliche Entlastung beantragen.
Hintergrund hierfür ist eine kluge Anreizregelung des Gesetzgebers: Große Unternehmen sind verpflichtet, die eigene Energieeffizienz unter Vorgabe verschiedener Normen prüfen und optimieren zu lassen: Sie müssen alle vier Jahre ein Energieaudit durchführen lassen - und bezahlen. Die Teilnahme am Klimaretter-Projekt können sich große Unternehmen als kostenlosen Baustein für dieses Audit anrechnen lassen.
Ines Schulz-Hanke