Hartmut Graßl vermittelt Wissen, indem er Geschichten erzählt. Einer seiner einstigen Studenten an der Universität Hamburg erinnert sich noch Jahrzehnte später genau: Wie Graßl, der Physiker und Klimaforscher, sich „so gut wie nie ans Vorlesungsskript gehalten“ habe. Wie er stattdessen zwischen einer Konferenz und der nächsten an die Uni gekommen sei, „und uns Geschichten erzählt hat, voller Leidenschaft, über Wetter und Klima“.

Zum Beispiel jene Geschichte von einem Flug über den Nordatlantik, und wie er, Graßl, über Grönland den Piloten gebracht habe, die Vorführung des Bordfilms zu stoppen, weil unter der Maschine im Meer Eisberge zu sehen waren. So konnten alle Fluggäste das Naturschauspiel bestaunen – und en passant bekamen sie dabei vielleicht auch eine Ahnung davon, wie zerbrechlich und komplex das Zusammenspiel des Lebens auf der Erde ist.

Der ehemalige Student ist heute selbst prominent: Es ist der Wissenschaftsjournalist und Wettermoderator Karsten Schwanke. 1995 schrieb er seine Diplomarbeit bei Graßl, Thema „Simulation von Vulkanausbrüchen“, 2017 traf er seinen ehemaligen Lehrer für eine Fernseh-Reportagereihe wieder. Er habe viel aus Graßls Vorlesungen mitgenommen, sagt Schwanke in dem Video. Zum Beispiel: „Man muss bunte Geschichten erzählen, die jeder verstehen kann.“ Und: Wie wichtig Leidenschaft sei.

Viele Klimaforscherinnen und -forscher tragen, so wie Graßl, die Erkenntnisse ihrer Arbeit an die Öffentlichkeit. Sie hoffen: Wenn die Wählerinnen und Wähler Bescheid wissen über die Erderwärmung und ihre Folgen, dann bewegt sich auch die Politik (siehe blauen Textkasten). Und sie kommunizieren auf ganz unterschiedliche Art.

Wie sehen sie ihre Rolle in der klimapolitischen Debatte? Welche Grenzen setzen sie sich, welche Interviews würden sie nicht geben, welche Vorträge auf keinen Fall halten? Damit beschäftigt sich klimafakten.de in einer Serie, die ausgewählte Forscherinnen und Forscher porträtiert. Den Auftakt machten Anfang September Brigitte Knopf und Stefan Rahmstorf; in diesem Text geht es um zwei, die ganz unterschiedlichen Generationen angehören: Hartmut Graßl und Maria-Elena Vorrath.

Graßl ist inzwischen 81 Jahre alt und längst emeritiert. Aber Geschichten übers Klima erzählt er immer noch. Er spricht „vor Hausfrauenvereinigungen, bei Rechtsanwälten und Landwirten“; wenn es dem Thema dient, setzt er sich mit Karsten Schwanke in ein Tretboot, um auf dem Wasser fürs Fernsehen über die Bedeutung von Algen fürs Klima zu fachsimpeln; und für ein Interview mit der ZEIT wanderte er durch die Berchtesgadener Alpen, den Ort seiner Kindheit. „Politiker tun meist erst etwas, wenn die Bevölkerung Forderungen stellt“, sagt er. „Also muss man aufklären.“

Graßl sagt, er rede mit allen, außer mit extremen Parteien wie der AfD. Auch nicht mit Privatsendern – sie sind ihm zu oberflächlich –, und gegenüber der Bild habe er ebenfalls „Hemmungen“. Aber das Boulevardblatt, sagt Graßl, habe ihn auch noch nie angefragt.

»Forschen zum besseren Verständnis des Klimasystems hat seit Jahrzehnten immer deutlicher gezeigt, dass wir Menschen ein sehr bedrohliches Großexperiment mit unserem Heimatplaneten gestartet haben. Nur weiterforschen ist zu wenig. Wir müssen das auch dem Bürger und den Entscheidern klarmachen. Deshalb haben es einige von uns seit Jahrzehnten über die öffentliche Debatte geschafft, dass wir seit 2016 ein völkerrechtlich verbindliches Paris-Abkommen haben, zu dessen Umsetzung, also der raschen Dämpfung der globalen Klimaänderungen, wir uns weiter mindestens in der bisherigen Intensität einsetzen müssen.«
Prof. Dr. Hartmut Graßl (Jahrgang 1940) war Hochschullehrer an der Universität Hamburg und mit Unterbrechungen von 1988 bis 2005 Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie in Hamburg. Er war und ist einer der einflussreichsten wissenschaftlichen Berater von Parlament und Regierung in Klimafragen.
Die Aufnahme entstand in der Kuppel des Reichstagsgebäudes, dem Sitz des Deutschen Bundestages; Foto: Dr. Andreas Pohlmann 714

Maria-Elena Vorrath ist 36 Jahre alt und Meeresgeologin. Ihr Spezialgebiet: die Chemie der Ozeane. In ihren Forschungsprojekten hat sie nach kleinsten chemischen Teilchen im Meer gesucht, etwa nach Überresten von Algenmolekülen oder Spurenmetallen – Grundlagenforschung war das. Durch ihren Beruf wolle sie „zur Wissenserweiterung beitragen“, sagt Vorrath, „und ein bisschen auch die Welt verbessern“.

Ihr Wunsch, Teil einer Lösung zu sein, statt lediglich zum immer besseren Verständnis des Problems beizutragen, wurde mit der Zeit allerdings immer stärker. Deshalb beschäftigt sich Vorrath inzwischen am Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven innerhalb des neuen Projekts Retake mit der Frage, wie sich mithilfe der Ozeane Kohlendioxid aus der Atmosphäre zurückholen lassen könnte.

Wie Graßl möchte auch Vorrath die Öffentlichkeit informieren. Deshalb spricht sie auf Science Slams über ihre Forschung, und deshalb hält sie Vorträge über den Klimawandel und seine Folgen, so wie auf einem Camp des Chaos Computer Clubs im Sommer 2019. Vorrath sagt ebenfalls: Mit der AfD würde sie nicht reden. „Ich will nicht als Kanonenfutter missbraucht werden. Meine Zuhörer müssen gar nicht mit mir übereinstimmen. Aber sie sollten einen offenen Austausch wollen. Sonst hat es keinen Sinn.“

 

»Politiker tun meist erst etwas, wenn die Bevölkerung Forderungen stellt. Also muss man aufklären« Hartmut Graßl

 

Im Herbst 2020, als wir das erste Mal mit Vorrath für dieses Porträt sprechen, hat sie gerade ihre Promotion am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven abgeschlossen. Der Hintergrund der Arbeit: die Frage, wie das Meereis der Antarktis sich in der Vergangenheit verändert hat, und das Bestreben, seine Ausdehnung in der Zukunft besser berechnen zu können. Dabei soll ein spezielles Molekül helfen, der kleinste Teil einer bestimmten Alge, die nur unter dem Eis wächst. Nach genau diesem Molekül suchte Vorrath für ihre Promotion. Was sie herausgefunden hat? Sie sagt, das Algenmolekül sei ein „vielversprechendes Werkzeug“ für die weitere Forschung.

Wenn sie auf Science Slams über ihre Arbeit spricht, wählt sie andere Worte. „Ich erzähle Euch heute etwas über den Schnee von gestern“, sagt sie dann, „das ist ein Klimakrimi, weil ich als Geowissenschaftlerin wie eine Detektivin arbeite. Ich habe nur keine Fingerabdrücke, sondern Spuren“ – chemische Spuren im Meer. „Aus denen kann ich den Tathergang rekonstruieren.“

Um zu verdeutlichen, wie sehr der Meeresspiegel seit Beginn der Industrialisierung bereits gestiegen ist und wie sehr er noch steigen wird, trägt Vorrath auf der Bühne quietschgrüne Gummistiefel mit 25 Zentimeter hohem Schaft. Um klarzumachen, worauf es ihr ankommt, streift sie vor ihren Auftritten ein weißes T-Shirt über. Darauf steht: „Keep Calm and Cut Emissions“. Zu Deutsch: „Bleibt ruhig und senkt die Emissionen“. Ihre Forschungsgruppe wird im Science Slam zum „Sondereinsatzkommando“, die ein „Täterprofil“ über die Antarktis erstellt.

Graßl kann mit Science Slams eher nicht so viel anfangen. „Die jungen Leute gehen frisch an die Öffentlichkeit“, sagt er, „das haben wir früher nie gemacht“. Dennoch erkennt er an, dass auch hinter Vorraths Auftritten ein gehöriges Maß an Reflexion steckt: darüber, was man überhaupt sicher wissen kann und was nicht, beispielsweise. Oder darüber, welche Unsicherheiten es in der wissenschaftlichen Arbeit gibt, wie man die offenen Fragen am besten transparent macht, welche Quellen verlässlich sind – und welche eben nicht. 

 

Hartmut Graßl kannte die Leugner des Klimawandels schon, bevor es den Begriff fake news gab. Er war einer der ersten, die in den 1980er-Jahren in Deutschland vor der Erderwärmung warnten – von der Politik zunächst völlig ignoriert, erzählt er, bis ausgerechnet der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU) über den deutschen Bundesrat darauf gedrängt habe, der Klimawissenschaft Gehör zu schenken

 

„Man muss immer fragen: Wissen wir schon genügend, um die Politik zu informieren?“ sagt Graßl. „Wenn man zu früh tönt, kann das in die Irre gehen.“ Im Idealfall seien die Erkenntnisse in einem Peer-Review-Prozess von Kolleginnen und Kollegen „durchgerüttelt und -geschüttelt“ worden, und jede Aussage sei mit einem „Fehlerbalken“ versehen, um Unsicherheiten transparent darzustellen. Dass seine strengen Maßstäbe nur noch schwer einzuhalten sind, weiß er selbst. „Die sensationslüsternen Medien sind so scharf auf neue Berichte“, sagt er, „und viele Wissenschaftler passen sich an“. Deshalb werde oft auch über einzelne Studien berichtet, die womöglich noch gar nicht so viel aussagten, oder über Forschungsergebnisse, die eben noch nicht gesichert seien.

Vorrath spricht auf Science Slams über ihre eigene Forschungsarbeit – die kenne sie am besten, sagt sie. „Am Ende weise ich aber ganz deutlich auf das Thema globale Erwärmung hin.“ Dabei und auch in ihren anderen Vorträgen, in denen sie den Klimawandel an sich erklärt, stützt sie sich vor allem auf die Berichte des IPCC, auf Daten der US-Behörden NASA und  NOAA.

Sie finde es wichtig, ihr Wissen nicht für sich zu behalten, sagt sie, schließlich habe sie „als Wissenschaftlerin enorm davon profitiert, in Deutschland eine exzellente, kostenlose Ausbildung zu bekommen.“ Und sie hofft: Wenn sie ihr Publikum darüber informiert, welche Erkenntnisse der Wissenschaft als gesichert gelten, gestützt auf verlässliche Quellen, wenn sie dabei die Komplexität der Zusammenhänge deutlich macht und Unsicherheiten sowie offene Fragen nicht verschweigt, „dann können die Menschen am Ende selbst beurteilen, was fake news sind und was nicht.“

Graßl kannte die Leugner des menschengemachten Klimawandels schon, bevor es den Begriff der fake news überhaupt gab. Er war einer der ersten, die in den 1980er-Jahren in Deutschland vor der Erderwärmung warnten – von der Politik zunächst ignoriert, erzählt er, bis ausgerechnet der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU) über den deutschen Bundesrat darauf gedrängt habe, der Klimawissenschaft Gehör zu schenken. 1987 wurde dann auf die Initiative Bayerns hin ein wissenschaftlicher Klima-Beirat bei der Bundesregierung eingerichtet.

Graßl ließ sich schon damals von den Zweiflern nicht beirren. „Das war einfache Physik!“ sagt er. „Wer sich damals ernsthaft mit der Frage beschäftigt hat, wusste, dass es den anthropogenen Klimawandel gibt, und dass wir Menschen ihn verursachen. Aber die fossile Lobby hat früh gemerkt, dass sie ihr Geschäftsmodell verliert, wenn sich das durchsetzt.“ Dadurch habe die Welt Jahrzehnte für koordinierte Klimapolitik verloren.

Für seine Promotion, die er 1970 abschloss, maß Graßl in den Schweizer Alpen, wie sich in Zirruswolken das Sonnenlicht brach. Auch darüber kann er unzählige Geschichten erzählen. Seine Arbeit gab Aufschluss darüber, wie sich Eiskristalle – oder Wassertröpfchen – unterschiedlicher Größe in den Wolken verteilten. Sie half Generationen von Klimawissenschaftler:innen, besser zu verstehen, wie Strahlung durch Wolken gelangt und wie deren Durchlässigkeit die Erderwärmung beeinflusst.

An die Öffentlichkeit habe er damit gar nicht gewollt, erinnert Graßl sich. „Ich war ein typischer Naturwissenschaftler, verliebt darin, etwas Neues zu finden.“ Doch als die Deutsche Physikalische Gesellschaft und die Deutsche Meteorologische Gesellschaft ihn baten, in einem wissenschaftlichen Memorandum das Klimakapitel zu überarbeiten, änderte sich das. „Und seitdem war ich nie wieder ohne den von den Medien gesuchten Kontakt.“

Auch nicht ohne Kontakt zur Politik. Graßl beriet als Mitglied zweier Enquête-Kommissionen den Deutschen Bundestag, und als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU) war er Ratgeber der Bundesregierung. Die Arbeit im WBGU bezeichnet er heute als einen seiner größten Erfolge, denn sie habe die Klimapolitik in Deutschland und indirekt weltweit verändert. „Wir waren Visionäre“, sagt er. „Die globale Energiewende ist inzwischen Ziel, und das Pariser Klimaabkommen macht es unumgänglich. Dazu habe ich beigetragen“.

 

Maria-Elena Vorrath forscht zu naturbasiertem Geoengineering. Eine Lösung für die Klimakrise sei das nicht - aber die Menschheit könne damit etwas Zeit gewinnen...

 

Maria-Elena Vorrath engagiert sich bei Scientists for Future. Hartmut Graßl tut das nicht – das sei für ihn keine passende Rolle, sagt er, denn neue Erkenntnisse würden dadurch ja nicht vermittelt. Dennoch schätzt er die Arbeit von Fridays for Future. „Die haben die Bevölkerung mobilisiert“, sagt er, „und sie verweisen auf die Erkenntnisse der Wissenschaft. Wir als Forscher müssen uns dann gar nicht mehr weiter kümmern. Es ist ja alles da.“ Ohne die Fridays for Future wäre der CO2-Preis von 25 Euro je Tonne, ab 2021 in Deutschland auf Emissionen im Verkehrs- und Gebäudesektor zu zahlen, wohl niedriger ausgefallen, lobt Graßl.

Langsam, ganz langsam bewegt sich die Politik also doch in die richtige Richtung. Vorrath sieht für die Zukunft dennoch schwarz. Sie findet die Aussicht auf die Folgen des Klimawandels beängstigend, auf Wasserknappheit, Konflikte, Naturkatastrophen, massive Flüchtlingsbewegungen, das Verschwinden von Staaten. Wer heute in einem Industrieland Kinder bekomme, sagt sie im Sommer 2019 beim Chaos Computer Club, sei im Grunde genommen schon jetzt dabei, aktiv deren Lebensgrundlagen zu zerstören.

Das macht sie wütend: „Seit Jahrzehnten wissen wir vom Klimawandel. Jetzt geschieht er wirklich. Das ist eine Katastrophe mit Ankündigung“, sagt sie. „Es kommt alles so, wie von der Wissenschaft prognostiziert. Und immer noch werden wirtschaftliche Interessen über den Umweltschutz gestellt, obwohl doch jedem klar sein muss, dass man ohne Wasser, Nahrung oder Rohstoffe kein Leben führen kann.“

»In meiner Kindheit, den 90ern, war es das Fisch- und Waldsterben, heute rasen wir auf die planetaren Grenzen zu. Ebenso wie die Klimakrise hat mich die Untätigkeit der Politik mein ganzes Leben lang begleitet. Während ›Denkt an eure Kinder‹ jahrzehntelang widergekaut und Treibhausgase ungebremst emittiert wurden, ist meine Generation erwachsen geworden und sieht sich mit dem drohenden Verlust ihrer Existenzgrundlage konfrontiert. Mit meiner Forschung an naturbasiertem Geoengineering greife ich nach dem letzten uns verbliebenem Strohhalm und hoffe, dass es für die Einhaltung des Pariser Abkommens nicht schon zu spät ist. Jeder Tag zählt.«
Dr. rer. nat. Maria-Elena Vorrath (Jahrgang 1985) wurde als Marine Geologin am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven (AWI) promoviert. Derzeit forscht sie dazu, wie sich durch die Verwitterung von Olivinmineralen der Atmosphäre überschüssiges CO2 entziehen lässt.
Die Aufnahme entstand vor einem Meeresaquarium im Nausicaá Centre National de la Mer in Boulogne-sur-mer, dem größten öffentlichen Aquarium Europas;

Sie habe schon darüber nachgedacht, sich „mit Sekundenkleber vor Konzernzentralen festzukleben, wie andere das bereits getan haben“, sagt sie, hat es dann aber doch nicht getan. Denn letztlich glaube sie, mehr zu erreichen, wenn sie sich auf ihre wissenschaftliche Arbeit konzentriere.

Doch in diesem Sommer hat ihre Wut sie dazu gebracht, sich als Forscherin völlig neu zu orientieren. „Die Grundlagenforschung rettet das Klima nicht“, schreibt sie in einer Mail. „Deshalb arbeite ich jetzt daran, das CO2 aus der Atmosphäre zu ziehen. Das wird fantastisch.“ Auf Twitter formuliert sie viel drastischer: „ICH HALTE ES NICHT MEHR AUS“ schreibt sie dort wenige Tage nach Veröffentlichung des Sechsten IPCC-Sachstandsberichts. „Seit Jahrzehnten erforschen wir das Klimasystem und versuchen es zu verstehen. Wir wissen um die Ursachen und Gefahren der #Klimakrise. Wir liefern die Erkenntnis, die Politik soll sie umsetzen.“ Doch die Politik kümmere sich „einen Scheiß“, während die Welt brenne, überflute, versauere, vertrockne. „Ich habe diese Gleichgültigkeit und Mutlosigkeit so satt.“

Sie selbst habe durch Studium, Forschungsexpeditionen und Konferenzen über 70 Tonnen CO2 emittiert und dennoch der Atmosphäre kein einziges CO₂-Molekül entzogen. „Auch ich bin ein Teil des Problems und gleichzeitig weit weg von einer Lösung. Daher habe ich beschlossen mein bisheriges Forschungsfeld zu verlassen und nur noch an Dingen zu arbeiten, die die CO₂-Konzentration in der Atmosphäre senken.“ Daher ihre Mitarbeit am AWI-Projekt Retake. „Damit ich noch in den Spiegel schauen kann. Damit ich schlafen kann. Damit ich weder passiv noch hilflos bin.“

 

»Seit Jahrzehnten erforschen wir das Klimasystem ... Doch haben all die Paper, Expeditionen und Konferenzen jemals CO₂ aus der Atmosphäre entfernt? Fachliteratur verstaubt in Archiven, die Politik kümmert sich einen Scheiß … Derweil brennt, überflutet, versauert, vertrocknet die Welt. … Ich habe diese Gleichgültigkeit und Mutlosigkeit so satt« Maria-Elena Vorrath

 

Die Alkalinität der Ozeane zu erhöhen, damit diese mehr CO2 aufnehmen können, ist für Vorrath „der letzte Strohhalm“. Es bedeute einen tiefen Einschnitt in marine Ökosysteme, schreibt sie weiter. „Ob und wie die gewünschte Wirkung eintritt und die Nebenwirkungen rechtfertigt sind, wollen wir herausfinden.“ Eine wirkliche Lösung sei Geoengineering allerdings nicht. „Wir gewinnen dadurch nur etwas mehr Zeit. Zeit um Dürren, Hungersnöte, Bürgerkriege und Kipppunkte um Jahre zu verschieben, vielleicht sogar ganz zu vermeiden.“

Solche drastischen Worte würde Graßl wohl niemals wählen. Er hat in seinem langen Forscherleben erfahren, dass (kleine) Fortschritte möglich sind, auch gegen Widerstand. Vielleicht blickt er deshalb mit Optimismus in die Zukunft. Er glaubt: Die Menschheit habe heutzutage viel bessere Möglichkeiten, die Welt zu retten, als früher. Sein Staunen über diese Welt hat er sich immer noch bewahrt: Im Gespräch mit Karsten Schwanke nennt Graßl die Erde „ein ganz fragiles Stückchen in diesem Weltraum“, die eigentlich schon längst tot sein müsste, weil die Sonne immer heißer strahle. Doch das Gegenteil sei der Fall. „Wie hat der Planet das organisiert?“

Das ist eine durch und durch rationale Frage. Doch in der Art, wie Graßl sie stellt, steckt auch ein Stück Hoffnung: Darauf, dass dieser fragile Planet auch in Zukunft lebendig bleibt. 

Alexandra Endres

In Teil 1 unserer Serie über Klimaforschung und öffentliche Kommunikation haben wir im September
Brigitte Knopf und Stefan Rahmstorf porträtiert. In Teil 3 wird es um Friederike Otto und Karsten Schwanke gehen.

Die Aufnahme von Maria-Elena Vorrath entstand mit freundlicher Genehmigung von Nausicaá.